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The Woman in White

English review

Zugegebenermaßen fällt es sehr schwer, ein Stück zu rezensieren, mit dem im Londoner West End so große Hoffnungen verknüpft sind…

Nachdem „The Beautiful Game“ aufgrund seines doch recht politischen Inhalts vor drei Jahren im West End nach nur elf Monaten kläglich scheiterte, hofften nicht wenige, dass Andrew Lloyd Webber mit seinem neuesten Werk „The Woman in White“ wieder ein Stück für die breite Masse erschaffen würde, das ‚political correct’ und unterhaltsam sein würde.

Nach der Premiere am 15. September nahmen die erfahrungsgemäß nicht sonderlich zimperlichen englischen Kritiker dann auch kein Blatt vor den Mund. Neben wenigen lobenden Worten gab es zumeist viele negative Äußerungen an der musikalischen Bühnenfassung von Wilkie Collins mysteriöser Geschichte über Anne Catherick alias die Frau in Weiß. So schrieb der Daily Telegraph über eine „herbe Enttäuschung“, der Evening Standard würde das Stück am liebsten sofort in einem Museum ausstellen, weil es „so altmodisch und langweilig“ ist. Selbst die altehrwürdige Times findet „The Woman in White“ „zu blass und schwerfällig, um spannend zu sein.“

Im englischsprachigen Raum ist die tragische Lebensgeschichte von der Frau in Weiß wohlbekannt. Das mag einer der Gründe sein, warum man im Programmheft gänzlich auf eine Inhaltsangabe verzichtete. Für die hiesigen Musicalbesucher ist der Stoff jedoch eher unbekannt… Die Handlung beginnt mit Walther Cartrights (Martin Crewes) nächtlicher Begegnung mit der Frau in Weiß (Angela Christian), die er vor ihren Peinigern rettet. Auf der Suche nach einem Job, trifft er auf den selbstsüchtigen und unangenehmen Mr. Fairlie (Edward Petherbridge), der ihn als Kunstlehrer für seine beiden Nichten Laura Fairlie (Jill Paice) und Marian Halcombe (Maria Friedman) engagiert. Walter verliebt sich in die schüchterne Laura, die der mysteriösen Frau in Weiß stark ähnelt. Doch Laura ist bereits dem fiesen Sir Percival Glyde (Oliver Darley) versprochen, der es nur auf ihren Reichtum als Erbin des väterlichen Anwesens Limmeridge abgesehen hat.

Um Laura vor einem großen Fehler zu bewahren, offenbart sich die Frau in Weiß als Anne Catherick, doch ihr Rat wird in den Wind geschlagen. Schon kurze Zeit später stellt Marian fest, wie fatal diese Hochzeit für ihre kleine Halbschwester war und setzt alles daran, Laura zu retten. Dazu braucht sie jedoch nicht nur die Hilfe der Frau in Weiß, sondern auch die des verschmähten Walter und Sir Percivals bestem Freund Count Fosco (Michael Crawford). Schlussendlich führt ein lange verschwiegenes Familiengeheimnis zur Aufklärung eines grausamen Verbrechens.

Beeindruckend, neu und originell – wenn auch absolut nicht Theater-like – ist das Video-Design von William Dudley, der schon mit dem Set-Design für „Tanz der Vampire“ Maßstäbe setzte. Sämtliche Bühnenbilder entstehen durch Videoprojektionen auf drei beweglichen (mal konvexen, mal konkaven) Leinwänden und erzeugen so täuschend echte Landschaften, Palastfronten oder häusergesäumte Straßen. Auf diese Weise wirken Friedhof, Wald und Herrenhaus noch authentischer. Das Interieur ordnet sich den übermächtigen Hintergründen mit spartanischen Mitteln unter. Hierbei reichen ein Tisch und Stuhl reichen vollkommen aus, um ein Wohnzimmer zum symbolisieren. Im Gedächtnis bleiben vor allem drei Szenenbilder:

  • Das Treppenhaus gleich zu Beginn des ersten Akts, durch das Marian und Walter in die oberen Stockwerke des Herrenhauses gelangen: Die beiden Darsteller skizzieren das Treppensteigen auf der Bühne nach und passen ihre Schritte den sich wandelnden Treppenstufen an. Das wirkt phasenweise etwas albern, aber dennoch effektvoll.

  • Das rosa-plüschige Gemach von Count Fosco, dessen pompöse Ausstattung mit virtuell fallenden Wandbehängen durch eine Vielzahl echter Kleintiere in Käfigen, eine Chaiselongue, einen antiken Sekretär und einen alten Ohrensessel perfekt in Szene gesetzt wird.

  • Der aus dem projizierten Eisenbahntunnel heran rasende Zug, der direkt auf die entsetzten Zuschauer zukommt. Erst in der letzten Sekunde verschiebt sich das Bild und der Zug rauscht links am Publikum vorbei, doch dieser Einschub sorgt für einen ordentlichen Schreckmoment.

Warum das Bühnenbild hier so ausführlich beschrieben wird, ist einfach zu begründen: Außer den beiden Musicalstars Maria Friedman und Michael Crawford, ist das Set-Design das einzige, was an „The Woman in White“ nachhaltig haften bleibt. Weder Lloyd Webbers Kompositionen noch David Zippels Texte reißen zu Begeisterungsstürmen hin. So überrascht es auch nicht wirklich, dass es kaum vier Wochen nach der Premiere schon keine Standing Ovations mehr gibt.

Die Leistung des 28-köpfigen Ensembles ist durchweg gut und man findet kaum Ansatzpunkte für Kritik. Jedoch tut sich außer den beiden – auch auf allen Plakaten groß angekündigten Musicalstars – niemand besonders hervor. Das ist sehr schade, denn durch den tadellosen Gesang und das glatte Spiel ohne Ecken und Kanten bekommt das Stück keinen Tiefgang und neigt zu Längen. Es mangelt an Akzenten, die von der Cast ausgehen sollten, gerade die sieben Protagonisten hätten hierzu ausreichend Gelegenheit. Aber weder Martin Crewes (alias Walter Hartright) noch Jill Paice (als Laura Fairlie) nutzen die Gelegenheit, ihr Duett „I Believe My Heart“ als Showstopper zu platzieren. Auch Angela Christian, die für die Titelrolle der Anne Catherick extra über den großen Teich geflogen ist, setzt keine Highlights.

Damit das nicht missverstanden wird: Alle spielen gut, aber eben nicht herausragend. Sie schaffen es nicht, dass Publikum für sich einzunehmen und zu fesseln. Zum Glück gibt noch die beiden erfahrenen Kollegen. Maria Friedman und Michael Crawford sind Garanten für ausgezeichneten Gesang und vorzügliches Schauspiel. Maria Friedman spielt die ältere Halbschwester von Laura, Marian Halcombe. Ihr großer Song „All for Laura“ weckt zum Ende des ersten Akts das erste Mal tiefe Emotionen. Mit viel Hingabe und Gefühl stellt Maria Friedman ihr Können unter Beweis. Darüber hinaus behält sie das hohe schauspielerische Niveau als starke Frau mit Herz bei, das ihr für ihre Rolle im viel zu früh abgesetzten „Ragtime“ in diesem Frühjahr einen Olivier Award einbrachte.

Michael Crawford kehrt als Count Fosco wieder an den Ursprung seiner einzigartigen Karriere zurück. Das „Ur-Phantom“ hat den „Dance of the Vampires“-Flop am Broadway offenbar gut verkraftet. Denn auch wenn er in ein unförmiges Schaumstoffkostüm gesteckt wird und kaum einen kompletten Song solo singt, zeigt sich seine außergewöhnliche Klasse im Schauspiel. Wenn er die Bühne betritt, hält man unweigerlich die Luft an.

Vor allem in seiner großen Szene im zweiten Akt bringt er als liebestoller, eitler Graf alle 1.800 Gäste im Palace Theatre zum Lachen. Er spielt mit den lebendigen Ratten und Mäusen in seinem oben beschriebenen Gemach als hätte er nie etwas anderes getan – wirklich großartig.

Doch abgesehen von diesen beiden Ausnahmekünstlern und dem im Musicalbereich neuartigen Set-Design kann „The Woman in White“ die Hoffnungen kaum erfüllen. Die Musik von Andrew Lloyd Webber plätschert ungewöhnlich seicht dahin. Im Gegensatz zu „The Beautiful Game“ hat man nicht ganz so viele Begegnungen mit „Cats“, „Starlight Express“ oder „Jesus Christ Superstar“, doch ganz ohne Rückgriffe auf vorangegangene Produktionen geht es auch diesmal nicht. Und so findet man sich stilistisch recht häufig in Nähe von „Evita“ oder „Whistle Down The Wind“ wieder. Das vorab als Hitsingle veröffentlichte „I believe my Heart“ mag als Popversion noch ganz ansprechend sein, aber auf der Bühne wird es recht nüchtern und leidenschaftslos dargeboten, so dass es sich als Ohrwurm nicht etablieren kann.

Auch die Regiearbeit von Trevor Nunn erzeugt bedauerlicherweise Wiederkennungen. Einige Szenen sind absolut identisch zu „Les Misérables“. Sicherlich ist es nicht einfach, immer wieder das Rad neu zu erfinden, doch nur weil „The Woman in White“ ebenfalls in einer düsteren Zeit spielt und ein tragisches Thema hat, muss man die Darsteller noch lange auf den alten Markierungen von „LesMis“ platzieren, was bis zum Frühjahr noch im Palace Theatre zu sehen war.

Misst man dieses Werk mit deutschen Maßstäben wäre das Stück zum Scheitern verurteilt: die Geschichte ist zu dunkel, die Musik ist zu wenig lebendig und ohne Hitpotential, es gibt keine opulenten Kostüme oder großartigen Kulissen. Doch die Engländer bewerten ein Musical nach anderen Kriterien und so bleibt zu hoffen, dass es nicht bei der Ausweitung des Vorverkaufs bis September 2005 bleibt.

Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical

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Theater: Palace Theatre, London
Besuchte Vorstellung: 18. Oktober 2004
Darsteller:  Michael Crawford, Maria Friedman, Jill Paice
Musik / Regie: Andrew Lloyd Webber / Trevor Nunn
Fotos: Tristram Kenton