Parade

Sind alle Musicals bunt, leichte Kost und sorgen für gute Laune beim Publikum? Auf viele aktuelle Shows mag dies zutreffen, doch es gibt auch thematisch anspruchsvolle, bewusst düster inszenierte Stücke, deren Handlungen viele Fragen aufwerfen und ein verstörtes Publikum zurücklassen.

Genau dies erleben die Zuschauer in der neuen Londoner Produktion von Jason Robert Browns „Parade“ im Southwark Playhouse gleich in mehrfacher Hinsicht: Wenn man das hinter einem Pub in den Gewölben der London Bridge Station versteckte Theater gefunden hat, wird man mit einem von 150 Sitzplätzen in einer einmaligen Kulisse belohnt.

Das Publikum findet rechts und links im düsteren und feuchten Gewölbe der Eisenbahn seinen Platz. Gespielt wird in der Mitte des langgezogenen Raums sowie an den beiden Stirnseiten, die jeweils zusätzlich mit Balkonen ausgestattet sind. Die Band ist ebenfalls an einer der Stirnseiten untergebracht.

„Parade“ beruht auf der wahren Geschichte von Leo Frank, einem jüdischen Fabrikchef, der im Südstaaten-Ort Marietta (Georgia) im Jahr 1913 – obwohl unschuldig – der Vergewaltigung und Ermordung einer Fabrikarbeiterin für schuldig befunden wurde. Frank gelang es auf mehr als 10.000 Seiten eigener Recherche, seinen Fall vor einem anderen Gericht erneut zur Verhandlung zu bringen. Doch kurz vor der Wiederaufnahme wird er aus dem Gefängnis entführt und im Heimatort des Opfers erhängt. Die mediale Begleitung des Prozesses und die Aufarbeitung von Franks heimtückischer Ermordung resultierte in einem Wiederaufleben des Ku Klux Klan sowie der Gründung der ADL (Anti-Defamation League), die sich für die Bürgerrechte jüdischer Mitbürger stark machte.

Jason Robert Brown hat sich hier ganz sicher keine seichte Abendunterhaltung ausgesucht.

Das Musical (Buch: Alfred Uhry) beleuchtet die verschiedenen Charaktere und ihre Motive. Zudem zeigt es nachdrücklich auf, wie es zur Hetzjagd auf Leo Frank kommen konnte. Das Publikum wird zunächst in die Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs versetzt, wo junge Soldaten von ihren Familien und Frauen Abschied nehmen. Es folgt ein Zeitsprung in das Jahr 1913. Einer der Soldaten von damals bereitet sich als Kriegsveteran auf die Confederate Memorial Day Parade vor.

Leo Frank, der nach seiner Hochzeit mit Lucille von seiner Heimat New York in den Süden gezogen ist, fühlt sich in dieser Atmosphäre sichtlich unwohl. Er fokussiert sich auf seinen Job und entfernt sich mehr und mehr von seiner Frau.

Zeitgleich flirten der junge Frankie und Mary auf der Straße miteinander. Mary lehnt Frankies Einladung ins Kino ab und geht, um ihren Lohn von Fabrikchef Leo Frank abzuholen. Leo gibt ihr das Geld und das Mädchen zieht fröhlich ab.

In der nächsten Szene wird Leo von Polizisten aus dem Schlaf geholt und in die Fabrik gebracht, wo sie eine grausam ermordete Mary vorfinden. Zunächst verdächtigt die Polizei den afro-amerikanischen Wachmann, der jedoch seine Unschuld beweisen kann. Der Wachmann lenkt den Verdacht auf Leo, der daraufhin inhaftiert wird – jedoch zunächst ohne Anklage.

Der Polizeichef lässt sich durch den Gouverneur unter Druck setzen, der seinerseits durch die anstehenden Wahlen angespornt wird, sich medienwirksam zu profilieren. Er findet einen ehemaligen Kriminellen, den er als Zeugen gegen Leo einsetzt.

Entsetzt von der Brutalität der Tat und voller Mitgefühl für Marys arme leidende Mutter, stachelt sich die Dorfbevölkerung gegenseitig immer weiter auf. Ein übereifriger Reporter tut ein übriges und bei der Verhandlung kommt es zu zahlreichen Falschaussagen, die letztlich alle darauf fußen, dass keiner Leo wirklich kennt. Vorurteile über Juden und reiche Nordstaatler häufen sich. Auch sein Anwalt kann gegen diese scheinbare Übermacht nichts ausrichten und Leo wird zum Tod verurteilt.

Leo selbst, ein wenig emotionaler, sehr kopfgesteuerter Mensch, fängt sofort an, Beweise für seine Unschuld zusammen zu tragen. Lucille, die davon überzeugt ist, dass ihr Mann dem Mädchen nichts getan hat, unterstützt ihn so gut sie kann. Nach vielen Monaten erreichen sie ihr Ziel und wähnen sich in Sicherheit und Leo so gut wie frei. Leo bekommt eine zweite Chance, er wird in ein anderes Gefängnis verlegt und sein Verfahren wieder neu aufgerollt. Doch am Tag vor der Wiederaufnahme wird Leo aus dem Gefängnis entführt und von seinen Feinden, die immer noch in ihrer Hasswelt gefangen sind, an einem Baum erhängt.

Das Finale bildet die erneute Vorbereitung des Dorfes auf die anstehende Memorial Day Parade. In diesem Trubel legt Lucille auch einen Kranz für ihren Mann nieder.

Die 15 Darsteller im Southwark Playhouse agieren ergreifend – jeder scheint voll in seiner Rolle aufzugehen. Die Zuschauer können das Phänomen Gruppenzwang hautnah nachempfinden, wenn die Dorfgemeinschaft angestachelt durch die Presse und das eigene Entsetzen über das schreckliche Geschehen reihenweise zu Falschaussagen hingerissen wird. Gewissensbisse sind bei den meisten  Fehlanzeige. Dies ändert sich jedoch im Laufe des Stücks und das Publikum schwankt zwischen verständnisvollem Mitgefühl und fragendem Widerwillen.

Besonders Samuel L. Weir ragt hier heraus. Zu Beginn der mit Mary flirtende Teenager Frankie Ebbs – liebenswürdig, frech, ein herzensguter und loyaler Junge, entwickelt er sich zu einem vom Schmerz zerrissenen, hasserfüllten Mann, der um jeden Preis einen Schuldigen finden will.

Diese große emotionale Bandbreite verkörpert der junge Darsteller glaubhaft bis in die Fingerspitzen.

Die beiden Leading Ladies verleihen ihrer Trauer – wenn auch aus grundverschiedenen Anlässen – sehr nachdrücklich Ausdruck. Samantha Seager (bekannt auch der TV-Soap „Coronation Street“) bekommt als trauernde Mutter das Mitgefühl des ganzen Publikums. Man versteht ihre Ratlosigkeit, ihre Wut auf den vermeintlichen Mörder ihrer Tochter und möchte sie einfach nur trösten.

Laura Pitt-Pulford gibt als Lucille zunächst die bemitleidenswerte Ehefrau eines Perfektionisten, der über seine Arbeit seine Frau total vergisst. ihre überbordende Energie bricht sich Bahn, wenn sie – überzeugt von der Unschuld Leos – den Verschmähungen des Dorfes standhalten muss und gleichzeitig ihrem zum Tod verurteilten Mann zur Seite steht. Ihr Bedauern und ihre tiefe Trauer sind übermächtig; während ihrer Soli hört man häufiges Schluchzen im Publikum.

Für die Hauptrolle des Leo Frank wurde Alastair Brookshaw engagiert. Dass sich der New Yorker Leo im Süden des Landes nicht wohl fühlt und sich nach Manhattan zurücksehnt, glaubt man ihm sofort. Er wirkt irgendwie fehl am Platz. Auch dass er dieses Unwohlsein und die Abscheu gegen die seiner Meinung nach plumpen Dorfbewohner mit einem hohen Grad an Arbeitseifer wettzumachen versucht, scheint nur zu verständlich. Seine gefühlvolle Seite kommt – erst viel zu spät – im Gefängnis zum Tragen. Doch trotz der schier aussichtslosen Lage verzweifelt er nicht, sondern kämpft.

Brookshaw verschwindet vollständig in dieser Darstellung. Erst als zum Finale ein meterhohes Foto des erhängten Leo Frank entrollt wird, kann das Publikum den Schauspieler Brookshaw wieder von der wahren Geschichte über Leo Frank trennen.

„Parade“ zeigt auf beklemmende Art und Weise, wie sich Menschen unter Druck verändern, wie sie einem vermeintlichen Leitwolf hinterherlaufen und sich dadurch das Schicksal einzelner Menschen gegen jede Logik und Wahrheit entwickelt. Gleichzeitig wird die Geschichte aus verschiedenen individuellen Blickwinkeln beleuchtet und man kann die Beweggründe für das Handeln der einzelner Charaktere verstehen.

Auch musikalisch nimmt Brown diesen Facettenreichtum auf. Man hört die für die Südstaaten typischen Dixieklänge, im Rahmen der Memorial Day Parade ergänzt durch Marschmusik, die je nach Tempo fröhlich oder bedrohlich klingen kann. Brown zeigt auch in diesem frühen Werk, dass er die verschiedenen emotionalen Stadien einer Beziehung in Musik umsetzen kann – es gibt unendliche traurige Balladen, visionäre Hymnen und fröhliche Musicalsounds. Kein Wunder, dass Brown für diese Kompositionen 1999 mit dem Tony Award belohnt wurde.

Für die Zuschauer ist „Parade“ eine emotionale Achterbahnfahrt. Man wird anfangs von fröhlichen Jugendlichen mitgerissen, die gemeinsam mit Erwachsenen ihre Helden aus dem Bürgerkrieg feiern. Man leidet zutiefst mit Mary‘s Mutter und unterstützt die Bevölkerung innerlich bei der Bewältigung des grausligen Szenarios. Dass der Reporter und der Gouverneur die Menschen gegen Leo antreiben, ist sehr aufwühlend. Der lebensfrohen Lucille beim Zerbrechen ihres Lebenstraum zusehen zu müssen, ist sehr ergreifend. Fast alle kämpfen beim finalen Zusammentreffen von Lucille und Leo und dem anschließenden heimtückischen Mord an dem Gefangenen mit Tränen – nicht wenige lassen ihren Gefühlen hier freien Lauf. Auch die Cast lässt sich von der musikalischen und inhaltlichen Intensität dieses Stücks mitreißen – selten habe ich soviele  Tränen bei einem Ensemble gesehen.

Zugegeben, ich bin vollkommen aufgelöst aus dem Theater gekommen und brauchte einige Zeit, um das Gesehene zu verarbeiten. Und doch bleibt „Parade“ mir positiv in Erinnerung. Ein Musical mit Tiefgang, Anspruch und Genialität – in allen Bereichen! Nach solchen Diamanten muss man heutzutage suchen.

Michaela Flint

Theater: Southwark Playhouse, London
Besuchte Vorstellung: 22. August 2011

Darsteller: Alastair Brookshaw, Laura Pitt-Pulford, Samantha Seager, Samuel J. Weir
Musik: Jason Robert Brown
Fotos: Alastair Muir / Kevin Wilson PR