„Romeo & Julia“ – das ist eine der schönsten und zugleich tragischsten Liebesgeschichten der Literatur. Unzählige Verfilmungen, Theaterstücke und auch einige Versuche, den Stoff als Musical auf die Bühne zu bringen, zeugen auch heute noch von dessen Intensität. Mehr als 400 Jahre nach seiner Veröffentlichung hat die Geschichte der verfeindeten Montagues und Capulets, deren Kinder Romeo und Julia in Liebe zueinander finden und deren Romanze auf so tragische Weise enden muss, nicht an Reiz eingebüßt.
In diesem Sommer zeigt das Sommertheater Kiel in der Regie von Daniel Karasek die neue Musicalversion von Peter Plate („Rosenstolz“) und Ulf Leo Sommer. Die kleine Open Air Bühne am Seefischmarkt bietet eine einmalige Kulisse: Die Schauspieler spielen das komplette Stück auf strahlend weißen Treppen in deren Mitte sich eine an einen Schiffsschornstein erinnernde Konstruktion befindet, die für die einzigen Szenenwechsel eingesetzt wird. Im Hafen hinter der Bühne wiegen sich die Segelschiffmasten im Wind und sorgen für ein perfekt abgestimmtes Ambiente.
Die Ouvertüre versetzt das Publikum in eine romantische Stimmung. Die Melodie ist filmisch-opulent arrangiert und schürt die Hoffnung auf Großes. Anstelle der weltbekannten einführenden Worte erleben die Zuschauer als Auftakt einen Kampf der verfeindeten Familien Montague und Capulet. Unterstützende Szenen auf den drei großen LED-Wänden oberhalb der Bühne lassen das Geschehen noch gewalttätiger wirken. Schade jedoch, dass die Zweikämpfe eher nachlässig einstudiert sind und mehr als Comedy erinnern als an Straßenkampf.
Schon in Romeos erstem Solo („Die Liebe kennt mich nicht“) zeigt sich Johannes Merz‘ Rockstimme, die sich im Verlauf des Stücks noch als sehr gute Wahl erweisen soll. Der folgende Dialog mit Benvolio (Julius Ohlemann) wird weitgehend in klassischer Sprache präsentiert. Die Anpassung einzelner Worte gibt Shakespeare’s Texten etwas Frisches und Modernes. Dieses Konzept wird über weite Strecken beibehalten. Die Mischung aus „alter“ Sprache und modernem Deutsch-Pop funktioniert einwandfrei. Leider schießen die Macher an einigen Stellen über das Ziel hinaus und fügen den eigentlichen Dialogen Textpassagen und Worthülsen hinzu, die sich nicht ins Gesamtbild einfügen.
Stirnrunzeln erzeugt ebenfalls die Begrüßung von Herrn Capulet auf seinem Maskenball. Warum heißt er seine Gäste auf französisch willkommen und nicht auf italienisch? Dadurch verschenkt man einen großen Teil Authentizität. Zacharias Preen gibt einen durchaus glaubwürdigen Paten ab. Er regiert seine Familie mit strenger Hand und macht dabei auch vor seiner Tochter Julia nicht halt. Der Song „Elektrisch“, der als Ensemble-Nummer den Maskenball untermauert, wirft jedoch viele Fragen auf und passt nicht so recht in das optisch (Norbert Ziermann) und choreographisch (Vivienne Hötger) durchaus stimmige Gesamtbild.
Dafür entschädigt das Duett der Titelfiguren, „Wohin“, und die anschließende Balkonszene durch Frische und Jugendlichkeit. Auch wenn die offenbar obligatorische „Titanic“-Szene an der Balkonbrüstung / Schiffsreling absolut unnötig ist, gewinnen die beiden Darsteller durch ihr authentisches Spiel die Sympathien des Publikums. Dass das Casting von Maxine Kazis und Johannes Merz in jeglicher Hinsicht als gelungen bezeichnet werden kann, zeigt sich bei ihrem Duett „Dann fall ich“, in dem sich Julia und Romeo ihre Liebe gestehen. Die beiden Darsteller ergänzen sich nicht nur stimmlich auf beeindruckende Weise, sondern man glaubt ihnen ihre tiefen Gefühle, ihre Verwirrung und ihre Hoffnung in jeder Minute.
Die Modernität der Inszenierung zeigt sich auch im Einsatz von diversen fahrbaren Untersätzen – von Motorrollern bis hin zu Sportwagen. Vielleicht wäre es hier aber angeraten gewesen, auf Elektrofahrzeuge zu setzen? Auf dem engen Raum sind die Abgase doch ziemlich störend.
Den coolsten Auftritt hat in jedem Fall Christian Kämpfer als Pater Lorenzo, der in Biker-Boots und Lederhose mit drei sehr freizügigen Nonnen auf einer Harley vorfährt, während auf den LED-Wänden eine digitale Wanderung durch einen Dornenwald mitläuft. Apropos LED-Wände; dort werden passend zur Handlung auch immer Nachrichten eingespielt, die auf den vollen Zuschauerbänken insbesondere dadurch für Lacher sorgen, dass Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig als Fürst Escalus aktiv am Geschehen teilnimmt.
Rudi Hindenburg alias Mercutio fiel schon in der anfänglichen Kampfszene durch seine raumgreifende Ausstrahlung auf. In der Szene „Señorita“, in der sich die Montague-Jungs über Julias Amme lustig machen, zeigt er sehr deutlich, dass er das Sagen hat. Die Szene ist ungewöhnlich und deftig inszeniert, in sich aber stimmig. Einzig, dass sich Mercutio über die „metrosexuellen Lackaffen“ muckiert, aber selbst wie einer aussieht, wirkt unfreiwillig komisch.
Der zweite Akt beginnt ähnlich ausdrucksstark, in dem Romeo und Julia ihre frisch geschlossene ehe gleich direkt auf den Kirchenstufen vollziehen. Etwas zuviel Pathos hat auch Mercutios Mordszene: Während der Kampf mit Tybalt wieder eher albern wirkt, löst der Tod Mercutios während er die Treppen hinaufkrabbelt, um schließlich in Romeos Armen fast zu sterben, eher ein Lächeln als Trauer oder Bestürzung aus. Auch Tybalts Ermordung durch Romeo wirkt leider ähnlich plump.
Wunderschön wiederum ist Julias Sehnen nach Romeo. Kazis legt viel Herzblut in ihr Solo. Überhaupt wirkt die junge Schweizerin in allen Szenen authentisch. Wenn sie ob ihres Schicksals mit Tränen in den Augen verzweifelt, löst sie großes Mitgefühl aus („Du sehnsuchtsvolle Nacht“). Wenig später steckt sie mit ihrer überbordenden Energie („High“) das ganze Publikum an.
Ob beabsichtigt oder nicht, die Szene, in der Julias Eltern sich selbst für die Wahl von Paris (wunderbar aalglatt: Dirk Stierand) als zukünftigen Schwiegersohn beglückwünschen („Ein gutes Gefühl“) hat einen großen Slapstick-Faktor. Das liegt zum einen daran, dass Preen mit dem Sprechgesang überfordert zu sein scheint, zum anderen wirkt aber auch Ellen Dorn als seine Gattin in ihren viel zu hohen Schuhen sehr hölzern. Bei dieser Szene wünscht man sich, dass sie ganz schnell zuende sein möge.
„Der letzte Tanz“, das Stück, das für die hübsch drappierte Bettszene ausgewählt wurde, ist auch dadurch besonders, dass Textpassagen von Shakespeare im Titel verarbeitet wurden und die Zuschauer so doppelt abgeholt werden. Zudem zeigen die beiden Hauptdarsteller einmal mehr, dass sie sich im Spiel sehr gut ergänzen.
Den schönsten Song hat zweifellos Kazis alias Julia mit „Für die Liebe“. So wie sie das Stück interpretiert, könnte es aus spielend in die Charts einsteigen. Ähnlich stark brennt sich Romeos Verzweiflung bei „Wie das Ticken einer Uhr“ ins Gedächtnis. Peter Plates Handschrift ist unverkennbar. Die Titel passen perfekt zum Thema der jeweiligen Szene.
Zum Schluss wird es Regieseitig noch einmal etwas holprig: Während Julia in der Familiengruft liegt, kämpfen Romeo und Paris auf den Stufen um sie herum auf Leben und Tod. Nachdem Romeo Paris erstochen hat, steckt er sein Messer feinsäuberlich wieder in die Scheide, damit Julia es nach seinem Tod dort findet, um sich damit selbst das Leben zu nehmen. Das hätte man sicherlich glaubhafter umsetzen können, zumal in anderen Szenen die Waffen achtlos liegen gelassen werden.
Doch am Schluss bleibt die nahezu perfekt gelungene Mischung von modernen Popsongs mit alten Texten, die ein rundes Musicalerlebnis erzeugen. Für eine Wiederaufnahme – die es sicherlich geben wird – kann ja noch an der ein oder anderen Stelle gefeilt werden. Dann steht einem gelungenen Theaterabend nichts mehr im Weg.
Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin
Theater: Sommertheater am Seefischmarkt, Kiel
Besuchte Vorstellung: 30. August 2014
Darsteller: Maxine Kazis, Johannes Merz, Rudi Hindenburg, Dirk Stierand, Christian Kämpfer, Julius Ohlemann
Musik / Regie: Peter Plate, Ulf Leo Sommer / Daniel Karasek
Fotos: Theater Kiel