40 Jahre nachdem Julie Andrews als liebevoll-strenges Kindermädchen Mary Poppins die Herzen der Kinobesucher eroberte, erlebte das gleichnamige Musical seine Weltpremiere in Bristol, UK. Weitere zehn Jahre später hob sich im Wiener Ronacher Theater der Premierenvorhang für die deutschsprachige Fassung. Aufgrund des großen Erfolgs wurde das Stück in der Spielzeit 2015/2016 in nahezu identischer Besetzung wieder aufgenommen.
„Mary Poppins“ ist ein weltbekanntes und beliebtes Familienmusical und so wundert es wenig, dass auch kurz vor Weihnachten eine große Anzahl Kinder im Theater dem Spektakel entgegenfieberte.
Schon die erste Großkulisse – das Haus von Familie Banks im Kirschbaumweg 17 – lässt staunen: Es ist fahrbar, die Front lässt sich aufklappen und gibt den Blick frei auf zwei bespielbare Etagen. Die Einrichtung ist mit viel Liebe zum Detail gestaltet und es macht Freude, hier alle Kleinigkeiten zu entdecken.
An diesem Abend steht Maria-Danaé Bansen als Kindermädchen auf der Bühne und es wird direkt deutlich, dass das Musical keine Kopie des Films ist: Mary Poppins ist deutlich strenger und reservierter als auf der Leinwand.
Die erste große Ensemblenummer ist schon sehr farbenfroh: „So ein wunderschöner Tag mit Mary“ wird links und rechts von überdimensionalen 3D-Blumen flankiert, die Kostüme strahlen in allen Regenbogenfarben, selbst Miss Larks Hund ist grün. Bühnen- und Kostümdesign (Rosalind Coombes, Matt Kinley und Christine Rowland) haben hier hervorragende, sehr harmonische Arbeit geleistet.
Ein deutlicher inszenatorischer Unterschied zum Film lässt sich beispielsweise in der Szene „Mit nem Teelöffel Zucker“ feststellen: Anstatt des chaotischen Kinderzimmers wird zu diesem weltbekannten Stück die komplett zerlegte Küche auf magische Weise wieder in ihren Ursprungszustand versetzt.
Auch „Supercalifragilisticexpialigetisch“ findet auf der Bühne in einem gänzlich anderen Rahmen statt: Mary Poppins besucht mit den Kindern und Bert den Buchstaben- und Wörter-Shop von Mrs. Corry, die im Film gar nicht auftaucht. Dort treffen sich die ungewöhnlich-sten Gestalten und es geht es sehr laut und bunt zu. Das Publikum ergeht sich nach dieser Szene in minutenlangem Applaus. Sie ist aber auch ein wahrhaftiges Bühnenfeuerwerk!
Bei „Mary Poppins“ geht aber auch düsterer zu. Ein Beispiel hierfür ist die Bank, in der Janes und Michaels Vater arbeitet. Das schwarz-weiße Bühnenbild ist großartig und die Mimik der Angestellten herrlich überzogen. Auch die Vogelfrau bringt ihre Bitte nach Futter vor einem eher dunklen Hintergrund vor. Hierbei wird sie von Mary Poppins unterstützt und die Kinder, insbesondere Jane, verstehen die Botschaft sofort.
Etwas gruselig und für kleine Kinder möglicherweise beängstigend sind die lebendig werdenden Spielsachen der Kinder („Spielt Euer Spiel“). Sie sind sehr phantasievoll gestaltet und keins sieht aus wie das andere. Doch es kann einen schon einschüchtern, wenn die von Jane nicht sonderlich liebevoll behandelte Stoffpuppe Valentin dem Puppenhaus in voller Lebensgröße entsteigt.
Dass Mary Poppins die Kinder verlässt und Miss Andrew, Papa Banks ehemaliges Kindermädchen, die Geschicke im Kirschbaumweg übernimmt, ist ebenfalls neu. Miss Andrew ist weder eine Augenweide noch wirkt sie sehr fürsorglich. Sie ist genau der strenge Drachen, den die Kinder immer gefürchtet haben. Und auch Papa Banks muss irgendwann einsehen, dass seine Erinnerungen an Miss Andrew im Laufe der Jahrzehnte wohl mehr als nur ein wenig verschwommen sind. Der folgerichtige „Abgang“ von Miss Andrew führt zu großem Jubel im Publikum. Diese Schreckschraube jagt aber auch jedem mit ihrem (lupenrein vorgetragenen) „Krautsaft und Fischöl“ Schauer über den Rücken.
Im Gegensatz dazu liefert „Drachensteigen“ wieder ein harmonisch-liebevolles Bühnenbild gepaart mit jeder Menge Liebe, die sich in wohligen Wogen über den Zuschauern ausbreitet.
Zu den optischen und tänzerischen Highlights des Abends gehört das Kaminkehrerballett über den Dächern Londons: mit „Schritt für Schritt“ erobern die steppenden schwarzen Männer und Frauen die Bühne und als Bert dann noch über den Köpfen der Zuschauer hoch oben im Bühnenportal steppend die Szenerie quert, kennt de Begeisterung kein Halten. Sowas sieht man nicht alle Tage!
Hübsch anzusehen ist auch Mary Poppins Regenschirm, der Sternbilder erzeugt, die sich bis in Publikum erstrecken.
Szenisch kann man in diesem Stück unglaublich viel entdecken. Jedes Bild hält seine eigenen kleinen oder großen Überraschungen parat. Dadurch wird es zu keinem Zeitpunkt langweilig. Hinzu kommt die schmissige Musik der Shermann-Brüder, die von George Stiles und Anthony Drewe um nicht weniger klangvolle Songs ergänzt und von Wolfgang Adenberg gekonnt ins Deutsche übertragen wurde.
Doch wirklich beeindruckend ist das gelungene Casting in Wien: Maria-Danaé Bansen macht ihre Sache als sogenannte Zweibesetzung der Titelfigur mehr als nur gut macht. Sie ist Mary Poppins! An ihrer Seite erlebt das Publikum David Boyd als Tausendsassa Bert, der Dick van Dyke in Sachen Charme und Witz in nichts nachsteht. Zudem setzt er tänzerisch und spielerisch Maßstäbe für alle, die ihm in dieser Rolle nachfolgen.
Reinald Kranner gibt einen sehr sehr strengen George Banks: Er agiert unerbittlich – sowohl gegenüber seinen Kindern und Angestellten als auch gegenüber seiner Frau Winifred. Kranners schauspielerische Leistung ist großartig, was insbesondere bei dem Wiederentdecken seines Mitgefühls und seiner Erinnerung an glückliche Tage deutlich wird. Milica Jovanovic ist die gefühlvolle Ehefrau und Mutter, die immer wieder zwischen ihrem Mann und seinem Umfeld vermittelt und zudem dem phasenweise leicht chaotischen Haushalt vorsteht. Jovanovic gelingt es, dieser vermeintlichen Nebenrolle Stärke und Charakter zu verleihen.
Tania Golden gibt die resolute Köchin Mrs. Brill und lässt sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen. Sie erinnert in Habitus und Komik an Hella von Sinnen, was dieser Figur exzellent zu Gesicht steht. Als sie im zweiten Akt wie eine britische Feuerwehr losjault, weil eine wertvolle Vase vor ihren Füßen zerschellt, sorgt sie für viele Lacher im Publikum.
Die Vogelfrau und ihre eindringliche Bitte, ihr für zwei Penny Vogelfutter abzukaufen, bilden den bei Disney üblichen moralischen Zeigefinger. Sandra Pires gelingt es, diese kurze Szene mit viel Einfühlungsvermögen über die Rampe zu bringen. Ihr Song trifft direkt ins Herz und man sieht mehrere Zuschauer, die sich verstohlen Tränen aus den Augen wischen.
Für das Gegenteil von Tränen der Rührung – nämlich Ekel und Abscheu – sorgt Maaike Schuurmans als Miss Andrew. Sie regiert mit harter Hand und singt dabei so glasklar und eiskalt, dass man Gänsehaut bekommt. Auch ihre unerbittliche Art und Weise, den Kindern Krautsaft und Fischöl als Allheilmittel einflößen zu wollen, ist beeindruckend.
Tara Marie Oberkofler und Moritz Krainz wirbeln als liebenswerte Quälgeister Jane und Michael Banks über die Bühne. Beide spielen so charmant und authentisch, dass man sich fragt, ob sie je etwas anderes gemacht haben. Auch das Kindercasting war also ein absoluter Glücksgriff.
Bleibt noch das Orchester, das an diesem Abend unter der Leitung von Michael Römer auftrumpfte: Es wird einmal mehr deutlich, dass Musical als Form des Live-Entertainment am besten funktioniert, wenn alle Gewerke – Musik, Bühne, Darsteller – bis ins Kleinste ausgefeilt sind und perfekt ineinandergreifen. Keine Musik vom Band, kein reduziertes Ensemble, exzellente Hauptdarsteller, keine Sparkulissen und Billigkostüme: So muss es sein, dann zahlt man auch gern angemessene Ticketpreise.
„Mary Poppins“ zeigt eindrucksvoll, wie eine erfolgreiche Disney-Show aussieht und was es braucht, um das Publikum zweieinhalb Stunden vorzüglich zu unterhalten.
Michaela Flint
Besuchte Vorstellung: 11. Dezember 2015
Darsteller: Maria-Danaé Bansen, David Boyd
Regie: Matthew Bourne / Anthony Lyn
Fotos: Deen van Meer