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Miss Saigon – 25-jähriges Jubiläum

Brillante Umsetzung eines bewegenden Stoffes

Wen diese Show nicht berührt, der ist aus Stein. Die Intensität von Musik und Handlung gepaart mit dem exzellenten Orchester und den herausragenden Darstellern, sucht in der Musicalwelt ihresgleichen.

Wie sehr sich Musicalfans ein Revival dieser Show gewünscht haben, zeigen die Box Office Erfolge in London: Nur 24 Stunden nach der Öffnung des Vorverkaufs waren Tickets für 4,4 Mio. GBP verkauft. Ohne, dass die Cast bekannt war! Die Leute haben die „Katze im Sack“ gekauft, weil sie sicher waren, dass „Miss Saigon“ einfach nur gut werden kann. Und sie wurden nicht enttäuscht!

Nach der ersten Spielzeit im West End (1989-1999) folgten zwar noch zwei UK-Tourneen, aber was ist das schon im Vergleich zum Besuch des Prince Edward Theatre in London, wo „Miss Saigon“ von Herbst 2014 bis Februar 2016 wieder zu sehen war. In Deutschland war man noch ausgehungerter, denn hierzulande war „Miss Saigon“ seit dem Ende der Stuttgarter Ensuite-Produktion 1999 gar nicht mehr zu sehen. Umso größer die Freude, dass anlässlich des 25. Geburtstags der nach „Les Misérables“ zweiterfolgreichsten Show von Alain Boublil (Texte) und Claude-Michel Schönberg (Musik) im September 2014 eine Vorstellung im Theater mitgefilmt und im Herbst 2016 in Kinos gebracht wurde.

Die Handlung – die nicht nur zufällig an Puccinis Madame Butterfly erinnert, fußen doch beide Stücke auf derselben französischen Buchvorlage – ist sehr dramatisch: Chris, John und ihre Kameraden sind während des Vietnamkriegs in Saigon (heutzutage ehr als Ho-Chi-Minh-Stadt bekannt) in der US-Botschaft im Einsatz. Eines Abends trifft Chris in einem Stripclub auf die blutjunge Kim. Er verliebt sich augenblicklich in sie. Die beiden schmieden Pläne, gemeinsam in die USA zurückzukehren, doch unerwartet wird die Botschaft abgeriegelt und die Soldaten abgezogen. Die beiden Liebenden finden in dem Trubel nicht mehr zueinander.

 


Während Chris sich in den USA nach ein paar Jahren ein neues Leben aufbaut, hütet Kim ihr Geheimnis, den gemeinsamen Sohn Tam, und verteidigt ihn mit allen Mitteln. Auch gegen ihren Cousin Thuy, der inzwischen einen hohen Rang im Militär innehat und sie unbedingt heiraten möchte (Die beiden wurden einander als Kinder versprochen.). Engineer, der frühere Betreiber des Stripclubs, wittert seine Chance, mit Kim und dem Kind endlich das Land verlassen zu können.

John engagiert sich mittlerweile in der Flüchtlingshilfe und setzt sich insbesondere für „Mischlingskinder“ ein, die komplett entwurzelt mit den anderen Boat People durch Asien treiben. Durch einen Zufall gerät er an das Einreisegesuch von Kim, Tam und dem Engineer, und konfrontiert Chris mit der Nachricht, dass er einen Sohn hat. Dieser wiederum muss das alles Ellen, seiner Ehefrau erklären. Gemeinsam brechen sie nach Bangkok auf, um Kim und Tam zu retten.

Unglückliche Umstände wollen es, dass Kim auf Ellen trifft. Kim, die bis zum Schluss an die Liebe von Chris geglaubt und sich ihre Hochzeit ausgemalt hat, steht vor den Scherben ihres Lebens und sieht keinen anderen Ausweg als sich selbst das Leben zu nehmen und Tam in die Obhut seines Vaters und einer fremden Frau zu geben.

Boublil und Schönberg haben den Stoff in voluminöse Klänge verpackt: Schon die Ouvertüre sorgt für Gänsehaut. „Why, God, Why?“, „Sun and Moon“ und „I’d Give My Life for You“ sind nur drei Beispiele für die fast schon zerbrechlichen Balladen, die das französische Kreativteam seinen Protagonisten auf den Leib geschrieben hat. „Last Night of the World“ und „This Is The Hour“ unterstreichen die dramatische Handlung perfekt. Wenn John mit „Bui Doi“ auf das unbeschreibliche Elend der Kinder aufmerksam macht, zerreißt es einen innerlich fast, so gelungen ist die Komposition von Chor, symphonischem Orchester und der Botschaft des Sängers. Nicht zu vergessen der klischeetriefende Showstopper „The American Dream“, in dem Engineer seine ganze Bitterkeit einfließen lässt.

Laurence Connor zeichnet für die Neu-Inszenierung verantwortlich. Es ist ihm gelungen, die Handlung weg von der beherrschenden Szenerie auf die Charaktere zu konzentrieren. Natürlich gibt es auch in der neuen Fassung einen Helikopter – und dieser ist dank digitaler Special Effects ebenfalls sehr beeindruckend. Dennoch stiehlt diese Kulisse den beiden Hauptakteuren Chris und Kim nicht mehr die Show wie in früheren Inszenierungen. Das Paar bleibt präsent, auch wenn um sie herum das Chaos losbricht. Leider wirkt diese Szene auf der Kinoleinwand sehr cinematografisch, da alles von Nahem gezeigt wird. Eine Totale hätte hier vielleicht mehr Theaterfeeling aufkommen lassen.

Totie Driver und Matt Kinley, die beiden neuen Bühnenbildner, ergänzen die vom Regisseur intendierte fokussierte Herangehensweise: Alles wirkt düsterer, schäbiger und dadurch authentischer. Besonders gelungen ist der Slum, in dem Kim und Tam leben müssen, während darüber als zweite Spielebene das eheliche Schlafzimmer von Chris und Ellen zu sehen ist. Ein toller Kontrast, der aber einmal mehr nicht von den Handelnden ablenkt.

Die Besetzung der „25th Anniversary Gala Performance“ ist herausragend. Allen voran Eva Noblezada als Kim. Die damals erst18-jährige Amerikanerin wurde direkt von der Theaterschule für die Hauptrolle des Revivals engagiert. Sie hat eine glockenklare Stimme, der sie in den richtigen Momenten die perfekte Intensität verleiht. Auch bewegt sie sich in jeder Tonhöhe souverän und spielt sowohl die schüchterne, als auch die liebende und am Ende verzweifelte Kim durchgehend glaubhaft.

Als Chris steht Alistair Brammer auf der Bühne. Er wirkt zunächst recht unscheinbar, doch seine warme Stimmfarbe kommt besonders bei den Balladen sehr gut zur Geltung und man nimmt ihm die Gefühlsaufwallungen, in denen er sich verstrickt, ab. Die Energie zwischen Brammer und Noblezada stimmt. Ihr Spiel wird dadurch nur umso intensiver. Gemeinsam mit Jon Jon Briones, der als Engineer alle anderen Männer auf der Bühne in den Schatten stellt, werden Noblezada und Brammer auch die Wiederaufnahme am Broadway 2017 bestreiten. Briones gibt den schmierigen Zuhälter nicht nur ungemein authentisch, es gelingt ihm zudem – und das ist absolut bemerkenswert – dieser an sich fiesen Figur etwas Mitleiderregendes, Sympathisches zu geben. Er hat eine unausweichliche Bühnenpräsenz und seine akzentuierte Aussprache gepaart mit einer sehr ausdrucksstarken Mimik machen seine Performance sehenswert! Sein „American Dream“ ist kein schillernder Wunschtraum, sondern eine verbitterte Abrechnung mit der westlichen Welt, die ihm so viel versprochen und nichts gehalten hat. Weltklasse!
Interessant in dieser Szene ist auch der bühnenhohe Kopf der Freiheitsstatue, deren Mund (der auch als Einfahrt für den Cadillac dient) sicherlich nicht zufällig an den einer aufblasbaren Sexpuppe erinnert.

Hugh Maynard gibt einen robusten John, der als Soldat seine Pflicht tut und in der Arbeit für die Kinder seine warmherzige Seite zeigt. „Bui Doi“ bringt er mit viel Gefühl über die Rampe. Tamsin Carroll ist eine unerwartet starke Ellen. Das Duett mit Kim („I Still Believe“) und vor allem „Maybe“ (für die Produktionen in Utrecht und London neu hinzugefügt) geben der gehörnten Ehefrau viel Selbstbewusstsein und Mitgefühl für Kim. Schön, dass diese Figur noch etwas mehr Aufmerksamkeit bekommen hat und nicht mehr nur schmückendes Beiwerk ist.

Schade ist, dass durch die vielen Close-Ups die Intimität zwischen den Darstellern verloren geht. Die gefilmte Version ist keinesfalls mit einem Theatererlebnis gleichzusetzen, wie bspw. bei „Billy Elliot“. Auch die Überblendungen zwischen den Szenen und insbesondere, wenn sich eine größere Anzahl Darsteller über die Bühne bewegt (u. a. die Soldaten), stören sehr.

Noch bevor das dramatische Geschehen seinen Lauf nimmt, lässt Rachelle Ann Go als Gigi aufhorchen. Selten habe ich „The Movie in My Mind“ so brillant gehört. Damit lag die Latte für alle anderen sehr hoch. Kein Wunder, dass die junge Sängerin für die Zugabe erneut auf die Bühne kommt: Gemeinsam mit Lea Salonga, die die Rolle der Kim 1989 kreiert hat, singt sie erneut ein zu Tränen rührendes „The Movie in My Mind“: so stark und doch so zerbrechlich. Das zollt auch Lea Salonga Respekt ab, die ihrer Kollegin ausgiebig applaudiert.

Apropos Zugabe… Nach der eigentlichen Show durfte das Publikum noch eine besondere 30-minütige Gala erleben: Lea Salonga, Jonathan Pryce und Simon Bowman gaben noch einmal ihr Können zum Besten. Lea Salonga weiß, dass sie „Miss Saigon“ ihre Karriere im Musicalbusiness verdankt, und wenn man sie so inmitten der ganzen jungen Darsteller sieht und vor allem ihrer immer noch wundervollen Stimme lauscht, kann man nicht glauben, dass sie 25 Jahre älter ist als die meisten. Auch heute noch würde sie als Kim sicherlich vollends überzeugen.

Eine amüsante Idee ist der Partnertausch, den der alte und neue Chris mit ihren Kims vollziehen: Da singt dann kurzzeitig Brammer mit Salonga und Bowman mit Noblezada. Doch am Ende sind wieder die Paare zusammen, die zusammen gehören. Die Darsteller haben an diesem Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel sichtlich Spaß!

Dass auch Jonathan Pryce mit seinen inzwischen 69 Jahren nicht zum alten Eisen gehört, zeigt er eindrucksvoll als er noch einmal „What a Waste“ und kurz darauf eine sehr komische Version von „The American Dream“ zum Besten gibt. Wie er sich mehr oder weniger lasziv auf dem Cadillac räkelt, ist extrem lustig.

Beim Schlussapplaus wirkt es so als wären alle – Kreative, Produzent, Original und Revival Cast – eine große glückliche Familie. Natürlich lässt es sich Cameron Mackintosh nicht nehmen, dem Publikum noch den Mund mit einer weiteren UK-Tour und Produktionen in Australien, New York und Deutschland wässrig zu machen. Die Broadway-Premiere ist am 1. März 2017, die UK-Tour startet im Juli 2017. Wann darf sich das deutsche Publikum über „Miss Saigon“ auf einer heimischen Bühne freuen?

Sollte es wider Erwarten doch nicht klappen mit dem deutschen Revival, dann bleibt zumindest noch die Hoffnung auf den Film, an dem Danny Boyle Gerüchten zufolge bereits arbeitet. Nach „Les Misérables“ sicherlich ein spannendes Projekt, und bei einem Meister seines Fachs wie Boyle darf man auf die Umsetzung sehr gespannt sein.

Solange die deutsche Bühnenversion und der Film auf sich warten lassen, können Theaterfans zumindest im Kino (wie bspw. dem Metropolis in Frankfurt und dem Savoy in Hamburg) Originalproduktionen von Theater- und Musicalaufführungen aus London und New York erleben. Besser als nichts!

Für alle, die es an den sehr ausgewählten Terminen nicht ins Kino geschafft haben: Die „Miss Saigon 25th Anniversary Performance“ gibt es bei amazon.co.uk schon zu kaufen!

Michaela Flint

Regie: Laurence Connor
Darsteller: Eva Noblezada, Alistair Brammer, Jon Jon Briones, Hugh Maynard, Rachelle Ann Go
Texte / Musik: Alain Boublil / Claude-Michel Schönberg
Verleih / Fotos: Picturehouse Entertainment