home 2023, Neu Brillant auf die musikalischen Gäste zugeschnitten

Brillant auf die musikalischen Gäste zugeschnitten

Stephen Sondheims Musicals sind beileibe keine leichte Kost – weder für die Zuschauer noch für die Darsteller und Musiker, die seine anspruchsvollen Kompositionen zu Gehör bringen. Dass in Lübeck in dieser Spielzeit die Wahl auf „Sweeney Todd“ ist daher umso erfreulicher, wird Sondheim doch hierzulande nicht allzu oft am Stadttheater gezeigt.

Das Drei-Sparten-Haus bleibt seinem bewährten Vorgehen treu und hat auch für diese Musical-Inszenierung zwei erfahrene Musicaldarsteller für die Hauptrollen engagiert. Patrick Stanke und Carin Filipčić erweisen sich im Laufe des Abends als perfekt eingespieltes Team: Die Chemie zwischen beiden stimmt, sie bilden ein eingeschworenes mörderisches Duo und sind gesanglich über jeden Zweifel erhaben. Doch von vorn…

Das Publikum findet sich in einem rundum mit Plastikfolie abgehängten Theatersaal wieder. Wird hier gerade renoviert? Nein, natürlich will man die historischen Ränge vor potenziellen Blutspritzern schützen. Denn der Barbier des Grauens nimmt auf nichts und niemanden Rücksicht. Okay, tatsächlich wird es gar nicht so blutig wie bspw. 2019 im English Theatre in Frankfurt, wo sogar die Zuschauer in der ersten Reihe Schutzumhänge anziehe mussten, doch Sweeney Todd, gänzlich von Rache zerfressen, verfolgt sein Ziel unerbittlich.

Optisch bleibt es weitgehend düster: Mit Ausnahme von Pirelli und seiner Gaukler-Truppe erinnern alle Darsteller an Gruftis, auch Mrs. Lovett (Filipčić) und Todd (Stanke) bilden hier keine Ausnahme. Londons Skyline ist unten auf die Plastikvorhänge gemalt, die die Bühne umrahmen, einige Großkulissen skizzieren Mrs. Lovetts Pie Shop und Richter Turpins Haus. Stephan Prattes (Bühne) und Elizabeth Gressel (Kostüme) haben hier ein stimmiges Gesamtbild geschaffen, Armut, Hunger und Frust der städtischen Bevölkerung im (vor)-industriellen London sind deutlich spürbar. Nikolai Meyers Maske fügt sich phasenweise sehr harmonisch in das Gesamtbild ein, bei manchen Figuren fühlt man sich dann plötzlich sehr an „Cabaret“ oder „Struwwelpeter“ erinnert, so sehr leuchten die Wangen, Lippen und Lidschatten in kräftigen Farben.

Schon beim ersten Aufeinandertreffen von Mrs. Lovett und Sweeney Todd begeistert Carin Filipčić mit ihrem pointierten Timing, Sinn für Komik und herausragender Mimik. Der von Trauer gezeichnete und von Vergeltung getriebene Todd wird schnell zu ihrem Auserkorenen. Als sie erkennt, dass es sich bei dem grantelnden Barbier um Benjamin Barker handelt, auf den sie schon früher ein Auge geworfen hatte, ist sie wild entschlossen, ihn um jeden Preis für sich zu gewinnen. Um wirklich jeden Preis! Sie überredet ihn und gemeinsam bauen sie einen über alle Maßen erfolgreichen Pie Shop auf. Zum Glück ahnt keiner der bierseligen Gäste, was oder besser wen sie gerade verspeisen. Mrs. Lovetts Unbeirrbarkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Stück und wird unterstrichenmit optisch wie schauspielerisch sehr gelungenen Szenen wie „Dort am Meer“.

Zu Beginn ist Patrick Stanke hinter dem langen Bart und mit den tiefen Augenringen kaum zu erkennen, doch spätestens bei der gesungenen Liebeserklärung an Todds Rasiermesser („Mein Freund“) ist seine warme, gefühlvolle Stimme unverkennbar. Gleiches gilt für sein flehentliches „Johanna“. Auch mimisch zieht er das Publikum in seinen Bann – insbesondere beim gemeinsamen Probieren der Meat Pies mit Mrs. Lovett („Nehmt Prelat“). Den ausgedehnten Zwischenapplaus nach seinem Rache-Monolog hat sich Stanke mehr als verdient!

So authentisch Filipčić und Stanke in die Haut ihrer Alter Egos schlüpfen, so wenig gelingt dies bei den aus dem Haus besetzten Rollen: Elvire Beekhuizen gibt Johanna Barker, Todds Tochter, die als Mündel von Richter Turpin ihr Dasein fristet. Leider fehlt es der lyrischen Koloratursopranistin an Gespür für die Figur, sie wirkt die meiste Zeit seltsam aufgesetzt und hat auch ihre liebe Müh mit Sondheims Kompositionen. Auch Bariton Laurence Kalaidjian zeigt Züge von Overacting, doch seine gefühlvolle Stimme und sein charmantes Spiel lassen darüber schnell hinwegschauen. Doch ihr „Küss mich“ Duett bleibt unfreiwillig schräg und ist schwer zu ertragen.

Franz Gürtelschmied gibt den herrlich schrägen Pirelli, der Todd sehr nervt und durch seinen plumpen Erpressungsversuch zu Mrs. Lovetts erster menschlicher Pie-Füllung wird. Sein Wettstreit mit Todd ist voll gelungener Slapstick-Momente. Pirellis Handlager Toby wird von Noah Schaul gegeben, der schon während seiner Ensemble-Einsätze aufhorchen lässt. Auch sein „Nun bin ich bei Euch“ („Not while I’m around“) ist herzerweichend und gefühlvoll.

Ein Heimspiel feiert einmal mehr Steffen Kubach, diesmal in der Rolle des fiesen Richters Turpin, der sein Mündel Johanna – auch gegen ihren Willen – heiraten will. Tatsächlich wirkt Kubachs Richter aber weniger fies als vielmehr recht naiv. „Hübsche Frauen“, das Duett zwischen den ehemaligen Widersachern Todd und Turpin, klingt fast schon zu befreit und harmonisch. Das dämonische, was dieser Szene innewohnt, geht hier leider etwas verloren.

Es wird deutlich, dass Werner Sobotka seine Inszenierung auf die beiden Gäste zugeschnitten hat. Sie können in allen Facetten glänzen und gewinnen das Publikum trotz der fragwürdigen Handlungen des grausamen Paares für sich. „Sweeney Todd“ in Lübeck ist einmal mehr ein Beleg, dass es sich lohnt, auch einem auf den ersten Blick sehr herausfordernden Sondheim-Musical eine Chance zu geben.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Großes Haus, Theater Lübeck
Besuchte Vorstellung: 29. Oktober 2023
Darsteller: Carin Filipčić, Patrick Stanke
Regie / Musik: Werner Sobotka / Stephen Sondheim
Fotos: Olaf Malzahn