home 2002, Favorites Die deutsche Musicallandschaft hat endlich wieder ein ‚echtes’ Musical

Die deutsche Musicallandschaft hat endlich wieder ein ‚echtes’ Musical

Lange haben die Anhänger des „klassischen“ Musicals darauf gewartet: Ein Stück bei dem das Ensemble, die Musik und das Bühnenbild perfekt kombiniert und absolut gleichwertig sind und gemeinsam ein gewaltiges Musicalerlebnis außergewöhnlichster Art erzeugen.

Am 8. Dezember 2002 hielt genau solch ein Musical Einzug in die für 9 Mio. Euro atmosphärisch vollkommen verwandelte Neue Flora in Hamburg: »Titanic – Das Musical« lockte am Premierentag Stars aus aller Welt an die Elbe! Neben Liza Minelli und Sophia Loren war auch Gina Lollobrigida der Einladung der Stage Holding gefolgt und zusammen mit 2000 weiteren geladenen Gästen erlebten sie eine hervorragende Show, die außer der zugrunde liegenden wahren Geschichte des White Star Line Kreuzers Titanic nichts mit James Camerons Kinoerfolg zu tun hat!Die 37 Premierendarsteller zeigten sich von ihrer allerbesten Seite, das 23-köpfige klassische »Titanic«-Orchester spielte sich eindrucksvoll in die Herzen der Gäste und die Bühnentechniker leisteten Schwerstarbeit, um die Titanic wirkungsvoll auf der Bühne untergehen zu lassen. Aber der Reihe nach – denn bevor die Premiere gefeiert werden konnte, wartete noch ein hartes Stück Arbeit auf alle Beteiligten auf und hinter der Bühne…

Die auf dem roten Teppich vor der Neuen Flora herrschenden frostigen Temperaturen des Hamburger Winteranfangs wurden sofort vergessen gemacht, als die Gäste das Foyer des Theaters betraten: Das ehemals kalte durch Stahlgeländer, gekachelte Böden und schlicht weiße Wände geprägte Theater wirkt nach dem Umbau warm und gemütlich: Raffinierte Lichteffekte lassen das weitläufige Foyer familiärer erscheinen und die gemütlichen Sitzecken laden die Besucher zu einem kleinen Small Talk vor der Show ein. Über die in allen Theatern der Stage Holding ausgestellte Moderne Kunst kann man geteilter Meinung sein, dennoch gehört sie inzwischen zum Bild eines Stage Holding Theaters dazu und tut der warmen Atmosphäre sicherlich keinen Abbruch.

Im Theatersaal wurden die Gäste von dem 14 m breiten und 9 m hohen Bühnenportal aus genieteten Stahlplatten empfangen und nachdem auch die Ehrengäste aus Hollywood unter tosendem Beifall ihre Plätze eingenommen hatten, konnte die Reise losgehen:

In der Eröffnungsszene am Pier in Southampton stellen die 37 Darstellerinnen und Darsteller insgesamt 75 Personen dar, die auf der Titanic nach Amerika mitreisen wollen. Hierzu zählen neben den Offizieren, Stewards (u. a. Leon van Leeuwenberg als 1. Klasse Steward Henry Etches und Ole Lehmann als Chefsteward Andrew Latimer) und weiteren Bediensteten auch die Gäste der 1., 2. und 3. Klasse. Es wird gezeigt, welche Träume die Ankommenden mit dem Schiff und einem Leben in Amerika verbinden.

Besonders beeindruckend ist in dieser Szene das Schauspiel des Ensembles, das die Besucher glauben macht, direkt neben der riesigen 300 m langen Titanic zu sitzen – obwohl auf der Bühne außer der Gangway und einer Ankerleine nichts von ihr zu sehen ist.

Auch der Kapitän E. J. Smith (Michael Flöth), der Ingenieur der Titanic Thomas Andrews (Carsten Lepper) und ihr Eigentümer Bruce Ismay (Robin Brosch) werfen bewundernde Blicke auf das Meisterwerk – „das größte bewegliche Objekt“ aus Menschenhand.

Nachdem alle Passagiere ihre Kabinen gefunden haben, nimmt das Schiff an Fahrt auf – was man von dem Stück im 1. Akt leider nicht ganz behaupten kann. Der erste Akt behandelt die vier Tage der ruhigen Fahrt, die die Titanic verbrachte, bevor die schlimmste denkbare Katastrophe in Form eines Eisbergs eintrat. In diesen ersten Szenen werden einzelne Schicksale, Träume und Wünsche der Passagiere deutlich gemacht und es wird eine Beziehung zwischen Publikum und Passagieren hergestellt. Es gibt jedoch keine Hauptfiguren (wie Kate Winslet und Leonardo Di Caprio als Rose und Jack im Hollywood-Film), die den Zuschauer durch das Stück leiten.

Die Unterschiede zwischen 1. und 3. Klasse werden bei den gezeigten Abendveranstaltungen (Galadiner beim Kapitän vs. Irischem Tanzabend unter Deck) betont. Und dann gibt es da auch noch die 2. Klasse, in erster Linie durch die Rolle der Alice Bean (witzig gespielt von Iris Schumacher) symbolisiert, die alles daran setzt, um zu der von ihr hoch verehrten High Society dazu zu gehören.

Der Spannungsbogen, der im 1. Akt erzeugt wird, ist enorm. Das Publikum erlebt mit, wie Titanic-Eigentümer Bruce Ismay den Kapitän zu immer schnellerer Fahrt antreibt, obwohl sowohl Kapitän Smith als auch seinen Offizieren Murdoch (Wolfgang Höltzel) und Lightoller (Stefan Voigt) nicht ganz wohl dabei ist. Der Unmut über die Geltungssucht von Ismay wird vom Ingenieur Andrews geteilt, der davon abrät, schon auf der Jungfernfahrt mit maximaler Geschwindigkeit zu fahren, nur um das berühmte blaue Band derschnellsten Amerika-Überfahrt zu ergattern.

Auch mehrere Decks unter Wasser, im so genannten Kesselraum, plagen den Heizer Frederick Barrett (Patrick Stanke) Zweifel an dem Befehl mehr Dampf zu machen. Außerdem hat auch noch private Probleme: Er möchte er seine Freundin in England gern heiraten, weiß aber nicht so genau, wie das anstellen soll. Daher holt er sich im Funkraum vom Funker Harold Bride (Jens Janke) Hilfe und übermittelt seinen Heiratsantrag in einer sehr bewegenden Szene mit der modernen Telegraphie.

Natürlich kennt das Publikum das Schicksal, das die Titanic ereilen wird, dennoch schaffen es Maury Yestons abwechslungsreiche Musik und Peter Stones sehr gutes Buch, dieses im ersten Akt in den Hintergrund zu drängen: Die Ragtime-Szene dient laut »Titanic«-Director Eddy Habbema einzig und allein dazu, die Zuschauer vom Unvermeidlichen abzulenken. In dieser Szene spielt die weltberühmte Band unter Leitung von Wallace Hartley (Christopher Morandi) einen damals sehr populären Charleston und animiert die 1. Klasse Passagiere zum Tanzen. Die Kostüme und Hüte der Damen in dieser Szene sind absolut sehenswert und vermitteln dem Zuschauer das Gefühl 90 Jahre in der Zeit zurückzureisen.

Das Ende des ersten Aktes bildet die Kollision mit dem Eisberg, deren Vibration auch in den Zuschauerreihen zu spüren ist und nicht nur wegen des imposanten Bühnenbildes (das Ensemble steht auf drei Spielebenen plus Krähennest hoch über der Bühne) ein beklemmendes Gefühl auslöst.

Im zweiten Akt geht es dann „nur“ noch um den Untergang der Titanic. Der Zuschauer erlebt mit, wie die 3.-Klasse Passagiere sich trotz versperrter Türen zu retten versuchen, während sich 1. und 2. Klasse im Großen Salon versammeln. Für das grandiose Bühnenbild der großen Freitreppe spendete das Premierenpublikum Szenenapplaus.

Eine der Schlüsselszenen im zweiten Akt ist „Die Schuldfrage“. Diese Szene wurde bühnentechnisch genial umgesetzt – die Zuschauer haben wirklich das Gefühl in den Funkraum im Schiffsbauch der sinkenden Titanic zu schauen. Der Eigentümer Ismay (Robin Brosch) macht dem Ingenieur Andrews (Carsten Lepper) und Kapitän Smith (Michael Flöth) Vorwürfe, wie es zu dieser Tragödie kommen konnte. Während Funker Bride (Jens Janke) verzweifelt versucht, die umliegenden Schiffe zu erreichen, verschaffen die drei Protagonisten ihrer Verärgerung und gegenseitigen Schuldzuweisung stimmgewaltig Luft.

Spätestens in der Folgeszene, in der das letzte Rettungsboot abgefiert werden soll, begannen einige Premierengäste mit ihrer Fassung zu ringen. Hier wird emotional aufwühlend gezeigt, dass sich Familien und Ehepaare trennen müssen, die Bediensteten stumpf und ohne nachzudenken ihre Befehle ausführen und es zeigt sich, dass die Liebe stärker ist als die Angst vor dem Tod. Als der 1. Klasse Passagier Isidor Straus (Robert Lenkey) seinen Platz im Rettungsboot zugunsten jüngerer Passagiere ablehnt, verzichtet auch seine Frau Ida (Marina Edelhagen) aus Liebe zu ihrem Mann auf die Rettung und verbringt ihre letzten Stunden gemeinsam mit dem Mann, mit dem sie seit 40 Jahren verheiratet ist.

Carsten Leppers große Stunde schlägt mit der Szene „Mr. Andrews‘ Vision“: Der Ingenieur ist im Rauchsalon der 1. Klasse und stellt entsetzt fest, dass mit ein paar winzig kleine Korrekturen an den Plänen die Katastrophe hätte verhindert werden können. Am Ende dieser Szene geht die Titanic endgültig unter und der Ingenieur nimmt seine Erkenntnisse mit in den Tod.

Das Finale des Stücks beginnen die in Decken des Rettungsschiffs „Carpathia“ gehüllten Überlebenden des Untergangs. Schonungslos wird dem Publikum vor Augen geführt, wie viele Menschen auf dieser Jungfernfahrt ihr Leben lassen mussten. Aus dem Off verstärken die Stimmen der Verstorbenen den Chor der Überlebenden und plötzlich öffnet sich noch einmal die Bühne und man sieht die auf der sinkenden Titanic Zurückgebliebenen wieder am Dock in Southampton.

Mit diesem Gänsehaut-Abschluss endete das Stück unter dem tosenden Applaus des Premierenpublikums, das schon von seinen Plätzen aufstand, bevor die letzten
Töne überhaupt verklungen waren.

Ein besonders schweres Los hat beim Schlussapplaus Robin Brosch, der den feigen, prestige-süchtigen Titanic-Eigentümer Bruce Ismay so überzeugend spielt, dass er zum Dank vom Publikum ausgebuht wird und regelrecht um Verzeihung bitten muss, damit die Zuschauer seine Leistung mit Applaus statt Pfiffen honorieren.

Die Resonanz unter den Premierengästen war durchweg positiv. Viele hatten Tränen in den Augen und ihre Mimik sprach Bände als sie den Theatersaal verließen, um nun mit allen anderen auf diese gelungene Premierenvorstellung anzustoßen.

»Titanic« lebt von einer genialen Komposition von schauspielerisch und gesanglich durchweg sehr guten Darstellerinnen und Darstellern, einem mitfühlenden nah der wirklichen Tragödie verfassten Buch, bewegender Musik und einem atemberaubenden Bühnenbild! Wer nicht glaubt, dass ein Schiff auf einer Bühne untergehen kann, sollte sich in der Neuen Flora vom Gegenteil überzeugen lassen.

Aus dem Ensemble soll hier bewusst niemand einzeln hervorgehoben werden, da ausnahmslos alle ihre Rollen hervorragend beherrschen. Einen Eindruck von diesem stimmgewaltigen, erstklassig ausgewählten Ensemble, den ergreifenden Chornummern und der wunderschönen Musik aus Maury Yestons Feder bekommt man auch auf der Originalaufnahme der hamburgischen »Titanic«-Inszenierung, die seit der Premiere im Handel erhältlich ist.

Oder noch besser: Man geht einfach hin und lässt sich von diesem Musical-Meisterwerk in Hamburg gefangen nehmen!

Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical

Theater: Neue Flora, Hamburg
Premiere: 8. Dezember 2002
Darsteller: Jens Janke, Carsten Lepper, Patrick Stanke
Regie / Musik:  Eddy Habbema / Maury Yeston
Fotos: Stage Holding
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