home 2017 Eine ungewöhnliche Interpretation des Andrew Lloyd Webber Klassikers

Eine ungewöhnliche Interpretation des Andrew Lloyd Webber Klassikers

Die Burgfestspiele in Bad Vilbel sind für viele ein fester Termin im Sommerfestspielplan. Wie in jedem Jahr stehen auch diesen Sommer zwei Musicals auf dem Programm: Den Anfang machte am 14. Juni Andrew Lloyd Webbers „Sunset Boulevard“, gefolgt von der 1960er Jahre Revue „Summer in the City“, die am 30. Juni Premiere feierte.

Die Plakate, die eine junge, lasziv dreinblickende Schönheit zeigten, sorgen bei Kennern des Dramas um die Stummfilm-Diva Norma Desmond für Irritationen. Dass Benedikt Borrmann jedoch auch die Rolle der Norma Desmond so ganz anders anlegte, als man es bisher gewohnt war, überraschte sehr. In Bad Vilbel ist Norma Desmond keine stilvolle, alternde Diva, die in ihrer Vergangenheit festhängt, sondern vielmehr eine sprunghafte, latent nymphomane (sie trägt Strapse und ist häufig leicht bekleidet), unter ausgeprägter Schizophrenie leidende, weltfremde Schauspielerin auf dem Abstellgleis.

In der Titelrolle ist April Hailer zu sehen, die zwar durchaus Musical-Erfahrung hat, einem aber nicht sofort einfallen würde, wenn man auf der Suche nach einer exzellenten Sängerin mit bestechender Bühnenpräsenz ist. Und so lässt Hailers Norma Desmond gesanglich sehr viel zu wünschen übrig. Schon bei „Nur ein Blick“ werden die Defizite offenbar: Das Orchester (Leitung: Markus Höller) beginnt zu spielen und man bekommt direkt Gänsehaut, wenn die Streicher einsetzen. Da es Hailer jedoch nicht gelingt, sich auf eine Stimmlage festzulegen, fehlt der rote Faden und die Wirkung dieses Songs verpufft trotz ihrer exzellenten Mimik.

Hailers Stärken liegen ganz klar im Sprechgesang, der absolut akkurat und gewollt disharmonisch ist. Hier kann sie ihr Gespür für Timing ausspielen. Es gelingt ihr vorzüglich, den Wahnsinn der Norma Desmond herauszuarbeiten. Allerdings ist die Bad Vilbeler Norma um ein Vielfaches wahnsinniger, eifersüchtiger und rachsüchtiger als man erwarten würde. Besonders stark fällt auf, dass es ihr – sicherlich regieseitig so gewollt – gänzlich an Grazie und Stil fehlt.

Es wirkt alles aufgesetzt und unnatürlich. Wenn sie dann die große Showtreppe auch noch mehrfach wie ein junges Reh hinaufhüpft, gehen der Stil und die Grandezza, die die Stummfilm-Diva gemeinhin umgeben, gänzlich verloren.

In der Rolle des offenbar geldsüchtigen Joe Gillis lässt sich Robert David Marx von Norma an die Leine legen. Marx kennt die Rolle aus dem Effeff und weiß, wo er die Schwerpunkte setzen muss. Naturgemäß ist es nicht vorgesehen, sich in dieser Rolle in den Vordergrund zu spielen, aber Marx holt alles aus der Rolle des glücklosen Autors heraus, was geht. Seine Interpretation des Titelsongs ist wunderbar bitter. Insbesondere im Zusammenspiel mit Janne Marie Peters (Betty Schaefer) und Andrea Matthias Pagani (Max) kann er unterschiedliche Facetten zeigen.

Die beiden letztgenannten sind es auch, die diese Aufführung – neben dem wieder sehr gelungenen Bühnenbild (Pia Oertel) und dem sehr guten Orchester – sehenswert machen: Peters ist als Betty zuckersüß und selbstbewusst zugleich. Sie setzt gesanglich Maßstäbe und man hört und schaut ihr sehr gern zu. Das romantische Duett mit Marx („Viel zu sehr“) ist ganz im Stil der 1980er Jahre gehalten und wirkt daher im Vergleich zu vielem anderen, was das Publikum an diesem Abend erleben darf, sehr authentisch. Pagani wiederum ist eine sehr elegante Erscheinung. Er gibt den liebevollen Diener bis in jede Haarspitze überzeugend. Ganz besonders begeistert er das Publikum aber in seinen Soli („Kein Star wird jemals größer sein“, „Träume aus Licht “), die vor Schmerz und Verbitterung auf der einen und Liebe und Zuneigung auf der anderen Seite nur so triefen. Ein wunderbares Highlight an diesem Abend!

Im Prinzip braucht es ja nicht mehr als diese vier Personen, um die Geschichte von Norma Desmond und Joe Gillis zu erzählen, doch in Bad Vilbel stehen noch weitere elf Darsteller und sieben Statisten auf der Bühne, die vielfach nicht mehr als singendes, tanzendes Beiwerk sind. Das ist sehr schade, denn einige dieser Darsteller (u. a. Janice Rudelsberger) haben in den letzten Jahren schon gezeigt, dass sie mehr können.

Die Choreographien wurden von Myriam Lifka erarbeitet und präsentieren in erster Linie das Ensemble sehr ansprechend. Nur in wenigen Fällen (bspw. beim Walzer) fällt tänzerisch etwas negativ auf.

„Sunset Boulevard“ in Bad Vilbel ist anders als man es erwartet: Norma Desmond scheint schon in ihrer aktiven Zeit als Star des Stummfilms eine selbstherrliche, selbstverliebte Diva gewesen zu sein, die erwartet, dass alles und jeder nach ihrer Pfeife tanzt. Diese Charaktereigenschaft hat sich in der Inszenierung von Borrmann zu krankhaftem Wahnsinn ausgeweitet, der jegliches Mitgefühl für die alternde Schauspielerin im Keim erstickt. Damit fehlt es der Hauptfigur an Tiefe, was sehr schade ist.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Burgfestspiele, Bad Vilbel
Besuchte Vorstellung: 14. Juni 2017
Darsteller: April Hailer, Janne Marie Peters, Robert David Marx, Andrea Matthias Pagani
Musik / Regie: Andrew Lloyd Webber / Benedikt Borrmann
Fotos: Eugen Sommer