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Garantiert nicht jugendfrei

Wendla lernt, dass sie ein Baby bekommt, wenn sie ihren Ehemann so sehr liebt wie keinen anderen, Moritz hält sich beharrlich an dem fest, was Kirche und Bibel ihm vorgeben, Hänschen passt sich nur vermeintlich den Konventionen an, Ilse kann ihrem Vater nicht entfliehen und Melchior rebelliert gegen zumindest in Gedanken gegen alles und Jeden.

Auf den ersten Blick alles typische Teenager-Probleme, doch Frank Wedekinds Drama „Frühlings Erwachen“ ist alles andere als Trivialliteratur. 1891 geschrieben, befasst er sich ausführlich mit der Gedankenwelt junger deutscher Schüler, die hin- und hergerissen sind zwischen den Erwartungen der Eltern, Anforderungen der Lehrer, Ideen der Freunde und den eigenen Wünschen an die Gestaltung ihres Lebens und die Auslebung ihrer (sexuellen) Phantasien.

Gepaart mit rockiger Musik, rebellischen Songtexten, interpretiert von charismatischen Jungdarstellern ergibt diese Literaturvorlage eines der am meisten gefeierten Off-Broadway-Musicals der letzten Jahre.

In dieser Spielzeit nimmt sich das Junge Theater in Lüneburg in Zusammenarbeit mit der Leuphana Universität Lüneburg und Haute Culture e. V. diesem aufwühlenden Stoff an. Elf Nachwuchsdarsteller, unterstützt von zwei erfahrenen Kollegen, versetzen sich in eine Zeit als Normen und Regeln wichtiger waren als Individualität, als Eltern und Lehrer noch mit Maßregelungen und bewusster Fehl-Information die aufkeimende Selbständigkeit der Kinder unterdrückten.

Das Stück ist keine leichte Kost, umso wichtiger ist die Glaubwürdigkeit der Protagonisten. Dies gelingt durch die Jugend der Akteure, die zeitgemäßen Kostüme und die wieder einmal sehr guten Kulissen (in Form von Vorhängen, die die verschiedenen Räumlichkeiten andeuten) von Barbara Bloch.

„Spring Awakening“ ist sowohl gesanglich als auch schauspielerisch eine Herausforderung. Nahezu jeder Charakter hat eine extreme Seite oder muss extreme Erfahrungen ausdrücken. Die elf Jungdarsteller sind schauspielerisch ganz klar auf dem richtigen Weg: Cornelius Dane transportiert Melchiors überbordende Energie und den Drang, die Welt zu verändern sehr glaubhaft. Manches Mal scheint er nah am Wahnsinn, was gut zu dieser von der Gesellschaft zerrissenen Figur passt. Niclas Schmidt interpretiert die tiefe Verwirrung von Moritz und dessen Hilflosigkeit bis hin zum Selbstmord sehr eindrucksvoll. Dass Wendla zwischen Baum und Borke steht, einerseits das kleine Mädchen, das seiner Mutter glaubt und andererseits eine junge Frau, die mit Melchior ihr erstes Mal erlebt, bringt Ulrike Schäfer ehrlich und nachvollziehbar über die Rampe.

Zwei Szenen erhielten vom Publikum besonders viel Aufmerksamkeit: Zum einen der erste Geschlechtsverkehr von Melchior und Wendla, der ausführlich, mit sportlichem Höchsteinsatz und nackten Tatsachen der Phantasie keinen Spielraum mehr lässt sowie die Kussszene des schwulen Paares Hänschen (Thomas Nienhaus) und Ernst (Joscha Enger), die bei den jungen Zuschauern für anhaltenden Zwischenapplaus und Jubel sorgte. Die Altersbeschränkung „ab 15 Jahre“ erklärt sich mit diesen beiden Szenen nur allzu deutlich. nicht zu vergessen die explizite Sprache, die keinerlei Blatt vor dem Mund nimmt.

In den Ensemble-Stücken gelingt es den Sängerinnen und Sängern die Energie, von der in Duncan Sheiks Kompositionen reichlich zu finden ist, auf das Publikum zu übertragen. Auch die zahlreichen Duette werden mal rockig, mal gefühlvoll intoniert und unterstreichen die verschiedenen Beziehungsgeflechte. Dass hier keine ausgebildeten Sänger auf der Bühne stehen, merkt man besonders während der Rebellion im Lateinunterricht („So’n verficktes Leben“) und beim Briefwechsel von Moritz und seiner Vertrauten Fanny Gabor, der Mutter von Melchior („Und dann ist’s vorbei“): Immer wenn es in die hohen Lagen geht, fehlt es sowohl Cornelius Dane als auch Niclas Schmidt an Kraft, die Töne auszusingen oder auch nur zu treffen. Doch diese Fehlgriffe sind Ausnahmen und stören den Gesamteindruck dieses jungen Musicals mit und für junge Menschen nicht.

Die vierköpfige Band unter der Leitung von Franziska Polmann haut kräftig in die Tasten und Saiten und wird Sheiks Partitur in vollem Umfang gerecht. Auch hier gibt es zwar ab und an einen Misston oder die Einsätze stimmen nicht, doch bei einem Nachwuchs-Musical verzeiht man so etwas gern. Schwierig ist jedoch, dass die Band für die Sänger vor dem abgrenzenden Gaze-Vorhang viel zu laut ist. Unverstärkt, d. h. ohne Mikrofon, hat auch ein ausgebildeter Vollprofi gegen satten Rocksound keine Chance.

„Spring Awakening“ ist einen Besuch wert. Allerdings ist hinterher durchaus Gesprächsbedarf vorhanden, der befriedigt werden will. Dies liegt unter anderem auch daran, dass der erste Akt sich auf die Entwicklung der Jugendlichen fokussiert und die verschiedenen Charaktere vorstellt, während im zweiten Akt ein Unglück auf das nächste folgt. Hiermit wird das Publikum weitgehend allein gelassen. Ein heiterer Musicalabend ist definitiv etwas anderes, das Label „gute Unterhaltung“ kann man aber in jedem Fall vergeben.

Michaela Flint

Theater: Junge Bühne T.3, Lüneburg
Premiere: 26. April 2012
Darsteller: Joanna Clamann, Cornelius Dane, Sonja Gornik, Ulrike Schäfer, Niclas Schmidt
Musik / Regie:  Duncan Sheik / Oliver Hennes
Fotos:  Theater Lüneburg