Das Theater in der Wiesbadener Wartburg empfiehlt sich als hervorragende Bühne für kleinere Produktionen. Das Junge Staatsmusical bringt dort regelmäßig seine Musicals zur Aufführung. Auch „Spring Awakening“ funktionierte in der intimen Atmosphäre der ehemaligen Wirkungsstätte des Wiesbadener Männergesangsvereins sehr gut.
So verwundert es nicht, dass auch das Set für „Our House“ sehr ansprechend ist. Auf Anhieb erkennt man verschiedene Spielebenen. Britta Lammers ist es gelungen, die zahlreichen Szenenbilder kompakt in einer roten Häuserfront zu verpacken, die sich dank gut genutzter Schiebetüren in eine Partylocation, Büros oder ein Gefängnis verwandeln lässt.
„Our House“ in Wiesbaden ist nach Berlin 2012 erst die zweite Aufführung des Madness-Musicals in Deutschland. Die Dialoge und einige Songtexte wurden hierfür von Thomas Huber ins Deutsche übertragen. Dass dies an einigen Stellen durchaus eine Herausforderung war, merkt man im Laufe des Abends häufiger: „My Girl“, in dem sich Joe und seine Kumpels Emmo und Lewis ihr Leid über Mädels klagen, holpert auf Deutsch schon arg.
Doch dies tut dem Schwung, den die Hits von Madness auch in diesem kleinen Rahmen entwickeln, keinen Abbruch. Die Band unter der Leitung von Frank Bangert lässt das Feeling der 1980er aufleben. Dass nur sechs Musiker (natürlich mithilfe via Keyboard zugespielter Instrumente) für diesen satten Sound verantwortlich sind, ist für viele Zuschauer eine Überraschung und wird am Ende lautstark honoriert.
Das Ensemble nimmt die Energie der Songs auf und setzt diese in lebendige Tanznummern um. „ Baggy Trousers“, bei dem die Darsteller eine gelungene Gummitwist Choreographie in Schwarzlicht hinlegen, gehört genauso dazu wie „House of Fun“ und „Our House“ am Beginn des Stücks. Die junge Cast kommt hierbei ordentlich aus der Puste. Allerdings muss man den Darstellern zugute halten, dass sich Myriam Lifka recht komplexe Choreographien ausgedacht hat, die gut zu den Songs passen und auch nah am Original von Peter Darling sind. Doch einigen fehlt es an der nötigen Kondition, dieses Tempo eine komplette, sehr tanzlastige Show durchzuhalten.
Iris Limbarth hat auch dieses Stück für das Junge Staatsmusical inszeniert. Sie orientiert sich stark an Matthew Warchus Premiereninszenierung von 2002. Die aufgrund von Bühne, Ensemble und Budget notwendigen Abstriche fallen wenig ins Gewicht. In Wiesbaden wird häufiger mit einem Doppelgänger gearbeitet als seinerzeit in London. Herausragende Szenen sind die wilde Autofahrt mit dem sprichwörtlichen Jaguar anlässlich Sarahs Geburtstag („Driving in my car“ mit einem sehr charmanten selbstgebauten Fiat) sowie „Tomorrow’s just another day“, wo die Handlung auf zwei Spielebenen stattfindet.
Es gelingt Limbarth, die beiden Handlungsstränge von Joe Casey gut und verständlich nachzuzeichnen. Manches Mal werden seine Entscheidungen zwar zu plakativ erläutert, damit auch wirklich jeder versteht, warum der unehrliche, anfangs getürmte Joe plötzlich ein erfolgreicher Geschäftsmann wird und der ehrliche, vorbestrafte Joe immer mehr in Bedrängnis gerät und sich den Avancen der Kleinkriminellen in seinem Umfeld kaum noch entziehen kann, doch alles in allem kann man die unterschiedlichen Denk- und Handlungsweisen der beiden Joes gut nachvollziehen.
„Our House“ steht und fällt aber mit einem charismatischen Hauptdarsteller. Michael Jibson hat sich seinerzeit mit dieser Rolle für weitere Engagements im West End empfohlen und ist heute auf der Musical- und Theaterbühne genauso zuhause wie im TV. In dieser vermeintlich kleinen Produktion übernimmt Tim Speckhardt die Doppelrolle von Joe Casey. Es gelingt ihm mit gut ausgeprägter, akzentuierter Mimik die beiden unterschiedlichen Charaktere von Joe darzustellen. Die in schwarz bzw. weiß gehaltenen Outfits und entsprechende Kopfbedeckungen tun ihr übriges, um den bösen und guten Joe in den schnell wechselnden Szenen voneinander zu unterscheiden.
Das Wechselspiel von Gut und Böse, richtigem und falschem Weg gipfelt in der Büroszene, in der beide Joes auf Mr. Pressman treffen, der Casey Street abreißen und in einen Schickimickiboulevard verwandeln will. Speckhardt interpretiert „Rise and Fall“ herausragend. Im Duett mit Sarah („It must be Love“) singt er eine lupenreine Zweitstimme. Dass Speckhardt neben der Hauptrolle auch die Gesangseinstudierung übernommen hat, kommt nicht von Ungefähr.
Joes Teenagerliebe Sarah wird von Nina Links zum Leben erweckt. Sie geht im Laufe des Abends durch ein Wechselbad der Gefühle, welches sie sehr gut über die Rampe bringt. Das ihre Stärken nicht allein im Schauspiel liegen, zeigt sie erst spät im zweiten Akt: Ihre Phrasierungen bei „It must be Love“ sind hervorragend. Sie bringt viel Gefühl in ihren Gesang (insbesondere bei dem eigens für die Show komponierten „NW5“, besser bekannt als „Sarah’s Song“) und kann mit ihrem Gesamtpaket aus Mimik, Spiel und Gesang vollends überzeugen.
Ein weiteres Stück, das Madness auf Wunsch von Autor Tim Firth eigens für das Musical geschrieben haben, ist „Simple Equation“, mit dem Joe’s verstorbener Vater die grundlegende Problematik einer falschen Entscheidung thematisiert. Peter Emig übernimmt diese Rolle des „Moralapostels“. Er kommentiert Joes Handlungen und Entscheidungen, auch wenn er auf das tatsächliche Geschehen keinen Einfluss nehmen kann und zumindest im Fall des „bösen“ Joes mit ansehen muss, wie sein Sohn ihn seine kriminellen Fußstapfen tritt. Emig spielt den Part mit nicht ganz so viel Stattlichkeit und Erhabenheit wie man es sich für diese Figur wünschen würde. Er hat sehr intensive Solonummern, die er durchaus zu nutzen weiß. Die Duette mit Felicitas Geipel als Kath Casey misslingen jedoch leider.
Das scheinbar willkürliche Schnipsen bei Emigs Auftritten verwirrt mehr als das es nützt. Allein durch den Lichtwechsel wird klar, dass hier jemand zu sehen ist, der nicht aktiv in die Handlung eingebunden ist. Insgesamt wirkt dieser Vater weniger als die moralische Instanz, die er sein sollte.
Zum erweiterten Darstellerkreis zählen Joes und Sarahs Freunde: Während insbesondere Lewis und Emmo (Johannes Kastl und Dwayne-Gilbert Besier) durch ihre Tollpatschigkeit und Liebenswürdigkeit auffallen, geben Billie und Angie (Viktoria Reese und Lisa Krämer) die typischen Teeniezicken zum Besten. Allen vier spielen rollendeckend. Kastl hinterlässt als schusseliger Lewis einen bleibenden Eindruck, während Besier als Emmo so richtig schön gaga ist. Sarahs Freundinnen harmonieren stimmlich perfekt, was vor allem bei „Embarassment / Keiner hier glaubt an Dich“ gut zum Ausdruck kommt.
Benjamin Geipel spielt einen herrlich schleimigen Mr. Pressman und kann auch als Kleinkrimineller Reecey überzeugen. Gesanglich gibt es bei ihm sicherlich noch Luft nach oben. Gleiches gilt auch für Felicitas Geipel, die als Joes Mutter aber vor allem schauspielerisch glänzen muss. Ihre Sorge um ihren Sohn ist greifbar und da sieht man ihr nach, dass sie sich im Bereich Tanz auch nicht gänzlich heimisch fühlt.
Was bleibt von „Our House“ in der Wartburg in Erinnerung? Auf jeden Fall das lebensfrohe, überzeugend tanzende Ensemble, die druckvolle Band und vor allem zwei Hauptdarsteller, die schauspielerisch und gesanglich auf ganzer Linie begeistern.
Michaela Flint
Besuchte Vorstellung: 10. April 2016
Darsteller: Tim Speckhardt, Nina Links, Johannes Kastl, Dwayne-Gilbert Besier, Viktoria Reese, Lisa Krämer, Peter Emig, Felicitas Geipel
Regie: Iris Limbarth
Fotos: Sven-Helge Czichy