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Our House

Manch einer mag denken: „Nein, nicht schon wieder ein Popmusical, bei dem die Songs einer erfolgreichen Band aus den 70er oder 80er Jahren in eine flache Story eingebettet werden. Und das nur, um dem Publikum eine Fun-Show zu präsentieren, bei der es ohne über die Handlung nachzudenken, die Hits von damals noch einmal erleben kann…“

Auch wenn man diese Meinung in Bezug auf so einige andere Popmusical der letzten Jahre durchaus teilen kann, auf »Our House« trifft sie definitiv nicht zu. Das Stück feierte am 28. Oktober 2002 Premiere im Londoner Cambridge Theatre und überraschte Kritiker wie Publikum gleichermaßen mit einer tiefsinnigen Liebesgeschichte.

Im Mittelpunkt steht der junge Joe Casey (gespielt von dem ebenfalls sehr jungen Michael Jibson), der sich in seine Schulkameradin Sarah (Julia Gay) verliebt. Die eigentliche Handlung setzt ein als die beiden in einem abgesperrten, baufälligen Haus von der Polizei erwischt werden. Joe muss die Entscheidung treffen, ob er wegrennt oder sich der Polizei stellt.

Die Story wird fortan in zwei parallel verlaufenden Handlungssträngen weiter erzählt: 1. Was wird aus Joe und Sarah, wenn Joe vor der Polizei flüchtet? und 2. Übersteht die Liebe der beiden den Gefängnisaufenthalt von Joe, der unweigerlich folgt, wenn er sich stellt?

Der Zuschauer muss dem Stück schon sehr genau folgen, um zu erfahren, wie sich das Leben der beiden in Abhängigkeit von dieser Entscheidung weiterentwickelt. In der ersten Variante verliert Joe seine Sarah und wird zu einem „erfolgreichen“ kleinkriminellen Immobilienhai. Ihre Wege kreuzen sich nach einigen Jahren und er gewinnt sie wieder für sich – vorerst…

Der zweite Handlungsstrang zeigt, wie sich die beiden auseinander leben, da Joe als ehemaliger Gefangener keinen Job findet, von der Gesellschaft geächtet wird und seinen Frust auch an Sarah auslässt. Schließlich trennen sich die beiden und jeder geht seiner eigenen Wege – vorübergehend…

Wie die Geschichte von Joe uns Sarah schlussendlich ausgeht, soll an dieser Stelle nicht verraten werden, da damit ein wesentlicher Effekt des Stücks vorweggenommen wäre. Nur soviel: Joes Mutter Kath (gespielt von der grandiosen Lesley Nicol) und sein Vater (von Ian Reddington ergreifend dargestellt) spielen bei der finalen Entscheidung eine gewichtige Rolle.

Tim Firth, der Autor dieses Musicals, hat eine Geschichte kreiert, bei der „die beiden Joe’s“ – so unterschiedlich ihre persönliche Entwicklung auch sein mag – immer wieder an die gleichen Kreuzungen ihres Lebensweges kommen und je nach Entscheidung das Leben eine positive oder negative Wendung nimmt. Der Musicalbesucher begleitet zwei junge Männer, deren Entwicklungen unterschiedlicher kaum sein könnten. Und das alles nur wegen einer Entscheidung, die in Jugendjahren getroffen wurde.

Die Story an sich ist so hervorragend, dass man meinen möchte, die Musik könnte nur eine Nebenrolle spielen. Weit gefehlt! Die Songs von Madness unterstreichen die Lebenskrisen, die alle Hauptdarsteller durchleben, auf äußerst eindrucksvolle Weise und ist lange nicht so poppig wie man es von einem Madness-Musical erwarten würde. Neben Klassikern wie “Our House (in the middle of the street)”, “It must be love” oder “Welcome to the House of Fun” wurden weitere 14 Madness-Hits in das Stück integriert. Und als Tim Firth dies nicht reichte, haben Madness – die als Music and Lyrics Associate Producers fungieren – zwei neue Songs komponiert („Simple Equation“ und “Sarah’s Song”), die das musikalische Bild perfekt ergänzen.

Neben der Musik erinnert auch die Choreographie von Peter Darling immer wieder an die Schöpfer dieses Stücks. Die einmaligen Schrittfolgen, die Madness über Jahre hinaus geprägt haben, kommen in »Our House« in vielen Szenen zur Geltung. Und auch der unvergleichliche Kleidungsstil von Madness – wie z.B. groß-karierte Anzüge – hat den Bühnen- und Kostümbildner Rob Howell bei seiner Arbeit beeinflusst. Das Bühnenbild ist sehr abwechslungsreich und lebt von einem ausgezeichneten Lichtdesign, für das Mark Henderson verantwortlich zeichnet.

Eine bemerkenswerte Szene, in der alle diese Faktoren perfekt zusammen spielen, ist „Driving in my car“: Joe und seine Freunde machen eine „Spazierfahrt“ in einem alten Jaguar – bildgewaltig unterstützt von bühnenfüllenden Leinwänden auf denen verschiedenste englische Landschaften vorbeiziehen. Diese Szene versetzt die Zuschauer in Stauen und steht der grandiosen Bühnenarbeit größerer und teurerer Produktionen wie »Chitty Chitty Bang Bang« in nichts nach.

Das durchweg sehr junge Ensemble überzeugt durch Ausdrucksstärke und stimmliche Vielfalt. Vor allem Michael Jibson bewältigt in jeder Show die schwere Aufgabe, zwei Persönlichkeiten darzustellen, die sich nicht nur optisch, sondern auch vom Typ her (schleimiger, rücksichtsloser Immobilienhai vs. niedergeschmetterter, mutloser Ex-Gefangener) sehr unterscheiden. Für die erforderlichen extrem schnellen und häufigen Kostümwechsel vom Jogginganzug zum Armani Anzug bleiben zwischen einigen Szenen nur 8 Sekunden (!) Zeit.

Lesley Nicol, die schon als Rosie bei »Mamma Mia!« und als Mrs. Johnstone bei »Blood Brothers« Erfolge feierte, spielt die verzweifelte Mutter von Joe absolut glaubwürdig. Einen mysteriösen Touch bekommt das Stück durch Ian Reddington, dem englischen Publikum aus zahlreichen Theaterrollen wie Macbeth, Hamlet, Richard III., bekannt, der als Joe’s toter Vater immer wieder belehrend auftritt und versucht, seinen Sohn in die richtigen Bahnen zu lenken.

Nicht nur das Premierenpublikum verließ das Cambridge Theatre nachdenklich…»Our House« ist ein Stück, dass im ersten Augenblick durch die unerwartet musical-fähigen Madness-Hits begeistert. Aber die geniale Story von Tim Firth beeinflusst den Besucher nachhaltig. Man denkt unweigerlich über eigene Entscheidungen nach: Was wäre gewesen, wenn man sich damals anders entschieden hätte? Insofern ist »Our House« eines der wenigen Musicals heutiger Zeit, das wirklich eine Botschaft zu vermitteln hat: Denk’ über die Folgen Deines Handelns nach, bevor Du Dich entscheidest!

Ein Besuch dieses Stücks sollte beim nächsten London-Trip Pflicht sein, denn selten bekommen Musicalbesucher eine so gute Kombination aus anspruchsvoller Story, im wahrsten Sinne ausgezeichneter Musik und überzeugenden Darstellern geboten!

Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical

Theater: Cambridge Theatre, London
Besuchte Vorstellung: Oktober 2002

Darsteller: Julia Gay, Michael Jibson, Lesley Nicol, Ian Reddington
Musik: Madness
Fotos: Cambridge Theatre, London