home 2017 Der Titelheld hat in dieser Inszenierung keine Chance gegen Fagin!

Der Titelheld hat in dieser Inszenierung keine Chance gegen Fagin!

Lionel Barts beliebter Klassiker steht in Lübeck in dieser Spielzeit in einer sehr voluminösen Inszenierung von Wolf Widder auf dem Spielplan. Charles Dickens Roman vom kleinen Waisenjungen Oliver, der nach einer schauerlichen „Waisenhauskarriere“ in den Fängen der Taschendiebbande von Fagin landet und bei einem seiner Beutezüge dank einer sehr glücklichen Fügung seinen Großonkel kennenlernt, ist hinlänglich bekannt. Spätestens nach dem letzten großen West End Revival 2009 haben viele Theater den Stoff wieder für sich entdeckt.

Katja Lebelt hat für die Handlung zu Beginn der Industrialisierung den passenden düsteren Rahmen geschaffen. Den grauen, teilweise mit verblichenen Postern plakatierten Hauswänden stehen farbenfrohe Kleider der Damen der Middle und Upper Class gegenüber. Auch die Kinder von Fagins Diebesbande und Nancy tragen den ein oder anderen farbenfrohen Akzent zur Schau.

Mit beweglichen Elementen wird durch wenige Handgriffe aus Fagins Räuberhöhle schnell ein Marktplatz. Durch diesen effektvollen Einsatz von Bühnenteilen beweist das Theater Lübeck einmal mehr, dass sich (nicht nur) seine Musicalproduktionen sehen lassen können.

Spannend an dieser Produktion ist zudem die große Anzahl an kleinen und großen Darstellern auf der Bühne: Neben den Chören der Grund- und Gemeinschaftsschule St. Jürgen sowie des Katharineums ist der beachtliche Statisterie-Chor zu erleben. Hinzu kommen noch mehr als 20 Solisten, in diesem Jahr angeführt von den Gästen Chris Murray als Fagin, Thomas Christ als Bill Sikes und Femke Soetenga als Nancy.

Leander Härtel müht sich als Oliver Twist redlich, den hohen Erwartungen, die mit dieser Rolle verbunden sind, gerecht zu werden. Da er im Vergleich zu vielen anderen Kindern auf der Bühne recht groß ist, fehlt ihm der „Niedlichfaktor“. Zudem singt er tendenziell eher klassisch und wechselt sehr oft zwischen Kopf- und Bruststimme. Das Unbefangene, Kindliche, was diesen cleveren, vom Schicksal gebeutelten Jungen ausmacht, geht Härtel leider gänzlich ab.

Als Artful Dodger, der Vorzeige-Taschendieb aus Fagins Bande, steht mit Paul Schiffner ein frecher Junge auf der Bühne, der zwar optisch und spielerisch ganz sympathisch über die Rampe kommt, leider die Spielfreude jedoch gesanglich nicht umsetzen kann. Schon sein erster Song („Komm, fühle dich ganz zuhaus“), eine schwungvolle Mitklatschnummer, gerät durch die fade Interpretation schnell wieder in Vergessenheit.

Sicherlich mag es streng erscheinen, mit den Kindern auf der Bühne so hart ins Gericht zu gehen. Doch bei „Oliver“ stehen eigentlich genau diese Kinder im Mittelpunkt des Interesses… Eigentlich. In Lübeck ist der Star der Show jedoch ganz klar Fagin! Chris Murray spielt mit wechselnden Dialekten, ist gesanglich über jeden Zweifel erhaben, behandelt die Kinder fast väterlich-liebevoll und wirkt phasenweise wie die Karikatur des fiesen Bandenchefs.

Herausragend ist die Szene, in der Fagin sich seiner ganz persönlichen Schmuckschatulle widmet und mit den einzelnen Schmuckstücken spielt, ihnen Namen gibt und sich wie ein Kind in diesem Spiel verliert. Scheinbar ist Wolf Widders Idee von Fagin von einer gewissen Schizophrenie geprägt. Doch obwohl man Fagin eigentlich anders kennt, passt diese Charakterausarbeitung sehr gut und ist mit Chris Murray perfekt besetzt.

Femke Soetenga darf die Rolle der „großen Schwester“ spielen, die sich rührend um Oliver kümmert, gleichzeitig an ihrer Liebe zum gewalttätigen Bill Sikes fast verzweifelt und am Ende ihr Leben gibt, um Oliver vor Sikes zu retten. Leider wird sie am Premierenabend ein Opfer der Tontechnik, denn ihre durchaus kraftvollen Soli kommen durch einen dicken Wattevorhang beim Publikum an. So kann das an sich lustige „Um-Pa-Pa“ natürlich nicht zünden. Durch ihr einfühlsames Spiel macht sie jedoch vieles wieder wett.

Bill Sikes gerät in dieser Inszenierung fast zu einer Randfigur. Thomas Christ spielt grausam und blutrünstig, kann aber mit den wenigen Gesangspassagen kaum zeigen, was tatsächlich in ihm steckt. Immerhin hat er auch in Lübeck schon Hauptrollen wie Jean Valjean („Les Misérables“) überzeugend gespielt.

Die weiteren Figuren sind rollendeckend besetzt – allen voran natürlich Mr. Bumble, dessen Interpretation dem Publikumsliebling Steffen Kubach sichtlich Spaß macht. Auffällig ist, dass das Stück insgesamt sehr dialoglastig ist. Die Songs treten in der aktuellen Inszenierung fast in den Hintergrund. Dies liegt sicherlich nicht an dem wie immer großen, klangvollen Lübecker Orchester unter der Leitung Adrian Pavlovs. Doch so richtig springt der Funke nicht über.

Dies spürt man auch beim Premierenapplaus, bei dem die heutzutage fast obligatorischen stehenden Ovationen nur sehr schleppend den Saal erobern. Doch auch hier zeigt der Applaus, dass das Publikum insbesondere von Chris Murray besonders angetan schien. Nicht nur sein finales Lamento („Überdenke ich meine Lage“) ist absolut großartig.

Nach dieser teilweise recht langatmigen Inszenierung, in der es nur wenige Lichtblicke (u. a. die Choreographien von Harald Kratochvil) gab, bleibt die Frage: Geht es in diesem Stück um Oliver und das Happy End, das er nach fast drei Stunden erleben darf, oder vielleicht doch um das abwechslungsreiche Leben, das den Charakter von Fagin zu einem Spannungsfeld aus Überleben und Wahnvorstellungen geformt hat?

Michaela Flint

Theater: Großes Theater, Lübeck
Besuchte Vorstellung: 17. November 2017
Darsteller: Chris Murray, Femke Soetenga, Thomas Christ, Steffen Kubach, Leander Härtel, Paul Schiffner
Regie / Musik: Wolf Widder / Lionel Bart
Fotos: Oliver Malzahn