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Zwei Institutionen, die zueinander gefunden haben

Endlich wird der leidenschaftliche Musicalerfolg von Boublil und Schönberg wieder in einem großen Musicaltheater aufgeführt! Die Zeiten, in denen die Studenten auf kleinen Stadttheater-Barrikaden ihren Kampf um Ehre und Gleichberechtigung, Freundschaft und Liebe ausfechten mussten, sind vorbei!

Kein Wunder also, dass zur Premiere im ehrwürdigen Theater des Westens die Schöpfer dieses Werkes – Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg – nebst Rekordproduzent Cameron Mackintosh anreisten, um sich ein weiteres Mal von der Begeisterung des Publikums für ihr Stück mitreißen zu lassen.

Im Vorfeld wurde viel Aufhebens um das für 10 Mio. Euro runderneuerte Theater des Westens gemacht – fast mehr als um das Stück an sich und seine Darsteller. Zugegeben, der Monate lange Umbau hat sich gelohnt, das Theater des Westens strahlte am Premierenabend mit den heraus-geputzten Gästen aus Entertainment, TV und Politik um die Wette.

Bei der Berliner Inszenierung von »Les Misérables« griff man auf ein Team zurück, das schon jahrelange Erfahrung mit verschiedensten Inszenierungen des Victor Hugo Klassikers vorzuweisen hat: James Powell führte schon bei der Londoner Original-Produktion von »Les Misérables« Regie und ist nach einer »Les Misérables« Konzert-Tour durch Skandinavien als Associate Director ans Theater des Westens gekommen. Nick Davies war schon bei »Les Misérables« in London und Duisburg als Musical Supervisor verantwortlich. Auch der Künstlerische Leiter Markus Brühl und der Musikalische Leiter Bernd Steixner haben schon Erfahrungen mit »Les Misérables« in Duisburg sammeln können.

Die bei der Stage Holding inzwischen bewährte Zusammensetzung von Ensembles aus erfahrenen Musicaldarstellern und Absolventen von Musicalakademien funktioniert bei »Les Misérables« zum ersten Mal richtig gut. Als großer Name soll und wird Uwe Kröger als Inspektor Javert die Fans in Theater des Westens holen. Für den Musicalstar geht mit dem Engagement bei »Les Misérables« ein Traum in Erfüllung, denn „es war immer mein Wunsch hier aufzutreten. Ich freue mich über die große Ehre, auf dieser Bühne im schönsten Ensemblestück aller Zeiten spielen zu dürfen.“

Ihm zur Seite steht mit Oleh Vynnyk als Jean Valjean ein in der deutschen Musicallandschaft bisher unbekannter Künstler. Dies hat sich aber mit der Premiere schlagartig geändert, denn er hat sich in kürzester Zeit absolut überzeugend in den verletzlichen, besorgten Charakter des Strafgefangenen Jean Valjean eingearbeitet. Scheinbar spielend wird Oleh Vynnyk mit seiner enormen stimmlichen Bandbreite den komplexen Anforderungen dieser Rolle in jeder Szene gerecht. Auch die Entwicklung vom gebrochenen Sträfling zum angesehenen Bürgermeister und schlussendlich liebevollen Vater fühlt der Ukrainer auf der Bühne intensiv nach. Er wird allen Facetten dieses Charakters gerecht und trägt das Stück in vielen Szenen allein.

Darüber hinaus ist Olegg Vynnyk in der Lage seinen Widersacher Javert problemlos an die Wand bzw. in den Hintergrund zu spielen – und das will was heißen, denn Javert wird von niemand Geringerem als Uwe Kröger verkörpert. Uwe Kröger wirkt tatsächlich etwas farblos und gewinnt gegenüber Oleh Vynnyk keinen Stich. Phasenweise passt er sich so gut in das Ensemble ein, dass er kaum noch auffällt. Seine Bühnenpräsenz, mit der er in Stücken wie »Elisabeth« jeden einzelnen Zuschauer im Vorbeigehen gefangen nahm und nicht mehr los ließ, kommt als Javert so gut wie nie zum Tragen.

Doch man muss Uwe Kröger zugute halten, dass er sich in Gesellschaft ausgezeichneter weiterer Hauptdarsteller befindet, die allesamt ihr Recht auf Bühne einfordern. Ann Christin Elverum gibt eine sehr verletzliche und beschützenswerte Fantine, deren Sorgen der Rolle nicht gerecht zu werden (siehe Interview Ausgabe 05-03), vollkommen unbegründet sind. Sie meistert den anspruchsvollen Titel „Ich hab geträumt“ mit Bravour und rührt das Publikum zu Tränen. Kasper Holmboe ist mit seiner Rolle als Bischof von Digne bereits aus Duisburg sehr vertraut. Seine volle, warme Stimme unterstützt seinen Auftritt als souveräner Gönner Valjeans ideal. Man darf gespannt sein, wie er die Herausforderung als Zweitbesetzung von Valjean und Javert meistern wird.

Die Thénardiers werden von Ulrich Wiggers und Heike Schmitz in einer Weise verkörpert, die ihresgleichen sucht. Ulrich Wiggers hat in der Rolle des betrügerischen und leicht-vertrottelten Wirts Thénardier ganz offensichtlich seine Paraderolle gefunden. Er übertrumpft in seinem Schauspiel bei weitem alle bisher da gewesenen Interpreten dieser Rolle; dass er zudem auch noch richtig singen kann, macht ihn zu einer Idealbesetzung, die das Publikum im Sturm begeistert! An seiner Seite die ewig mürrische und extrem unfreundliche Madame Thénardier, die von Heike Schmitz formvollendet interpretiert wird. Sie hat jedoch ihrem „Bühnengatten“ gegenüber einen entscheidenden Vorteil, verkörperte sie diese Rolle doch bereits bei Stadttheater-Inszenierungen. Daher weiß sie genau, worauf es ankommt und wie sie das Publikum zugleich erschrecken und erfreuen kann.

Die Tochter der Thénardiers, Eponine, wird von der UdK-Absolventin Vera Bolten gegeben, in die große Hoffnungen gesteckt wurden. Ihr Spiel ist jedoch sehr hart und die sensible Seite des unglücklich verliebten Straßenmädchens nimmt man ihr nicht ganz ab. Dies mag zu einem Teil aber auch daran liegen, dass sie gerade in ihrem großen Solo „Nur für mich“ stimmlich kaum warme Akzente zu setzen vermag. Valerie Link hingegen scheint wiederum ein Glücksgriff des Casting-Teams zu sein. Sie stellt die abgeschottet von der Außenwelt aufwachsende, demütige und schüchterne Cosette sehr ergreifend dar. Ihr großer Moment ist das Duett „Mein Herz ruft nach Dir“, in dem sie dem Studenten Marius ihre Liebe gesteht. Die Sympathie zwischen Valerie Link und Lucius Wolter (Marius) ist zu spüren und man glaubt dem Paar sofort, dass sie ineinander verliebt sind.

Das gefühlvolle Spiel von Lucius Wolter kommt auch in den großen Szenen mit den Studenten im ABC-Café deutlich zum Tragen. Seine feine, zeitweise allerdings zu sanfte Stimme weckt Mitgefühl und wenn er gegen Ende des Stücks „Dunkles Schweigen an den Tischen“ bedauert, ringen sicherlich nicht wenige Zuschauer mit der Fassung.

Der Studentenanführer Enjolras wird von Martin Pasching verkörpert, der seine Freunde auf eindrucksvolle Weise motiviert und mitreißt. Doch seine Erscheinung ist (noch) etwas zu unauffällig, um als Anführer einer rebellischen Studentengruppe gegen die französische Armee auf die Barrikaden zu gehen und für Ehre und Gerechtigkeit zu sterben.

Die Fabrikarbeiter, Huren und Studenten werden von einem hervorragenden Ensemble verkörpert, das stimmlich ausgezeichnet zusammen passt und schauspielerisch harmoniert.

Die exzellenten Darstellerinnen und Darsteller ließen am Premierentag vergessen, dass die Show mit einer einstündigen Verspätung anfangen musste, da der Motor der Drehbühne nicht einwandfrei funktionierte. Doch das kann eigentlich nur als gutes Omen gewertet werden. Denn wie Cameron Mackintosh mitteilte, gab es dasselbe Problem auch bei der Medien-Premiere von »Les Misérables« am Broadway und danach hat man dort 18 Jahre lang sehr erfolgreich gespielt.

Wie formulierte Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit in seinem Grußwort an die Premierengäste so treffend? „Berlin ist um einen Anziehungspunkt reicher!“ Dem kann nur zugestimmt werden, denn nur selten gab es eine Premierenbesetzung, die ihre Rollen so verinnerlicht hatte, dass sie bis ins kleinste Detail überzeugte. Gleiches gilt auch für das 25-köpfige Orchester, dass man Premierenabend unter der Leitung von Nick Davies sein Allerbestes gegeben hatte.

Nachdem die Show nach Standing Ovations und schier endlosem Applaus erfolgreich über die Bühne gegangen war, verteilten sich die 2.300 geladenen Gäste auf das Partyzelt und das Hochparkett-Foyer und feierte bis in die frühen Morgenstunden.

Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical

Theater: Theater des Westens, Berlin
Premiere: Oktober 2003
Darsteller: Vera Bolten, Uwe Kröger, Olegg Vynnyk
Buch / Musik:  Claude-Michel Schönberg / Alain Boublil
Fotos: Stage Holding