Die Junge Bühne T.3 in Lüneburg hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Thema Musical der Jugend von heute näherzubringen. Hierbei setzt Dramaturg Friedrich von Mansberg vorrangig auf kritische Inhalte, die sich von und mit Jugendlichen hervorragend bearbeiten lassen. Hierzu zählte in der Vergangenheit auch „Frühlings Erwachen (Spring Awakening)“. In dieser Spielzeit steht mit „Fast normal (Next to normal)“ eines der erfolgreichsten Musicals der letzten Jahre auf dem Plan.
Es geht um Familie Goodman: Mutter Diane ist seit dem Tod ihres Sohnes Gabe manisch-depressiv (bipolar), was Vater Dan im Alltag vor immer wieder neue Herausforderungen stellt, um die scheinbar heile Familienfassade aufrechtzuerhalten. Die gemeinsame Tochter Natalie erlebt ihre Pubertät im Schatten ihres übermächtigen Bruders und fühlt sich für die häufigen Aussetzer ihrer Mutter verantwortlich. Dabei verliert sie sich zusehends selbst und verweigert jede Hilfe – gleich, ob nun vom Vater oder Schulfreund Henry.
Im Gegensatz zur Originalproduktion verschiebt sich bei dieser Inszenierung der Fokus von der Mutter auf die Tochter. Nach wie vor hängt das Wohlbefinden der Familie vom Wohlbefinden der Mutter ab, aber in Lüneburg geht es in erster Linie darum, wie Natalie ihren Weg findet und mit dieser langjährigen Familienkrise umgeht.
Im rustikalen T.3 sind die vier Spielorte nebeneinander aufgebaut, was vom Publikum viel Aufmerksamkeit erfordert, aber zugleich spannende Spielmöglichkeiten bietet. Für die Bühne zeichnet Christiane Becker verantwortlich, der er auf kleinem Raum gelingt, in sich geschlossene Räume zu gestalten. Friedrich von Mansberg (Regie) nutzt diese „Spielwiese“ vortrefflich und die teilweise parallel genutzten Spielebenen funktionieren sehr gut.
Die im Hintergrund platzierte sechsköpfige Band unter der Leitung von Hye-Yeon Kim intoniert Tom Kitts Melodien mit viel Energie und lässt es an ncihts vermissen.
Die Nachwuchsdarsteller (Natalie – Anna von Mansberg, Henry – Timm-Marvin Schattling, Gabe – Calvin Noel Auer) werden in dieser Inszenierung von drei erfahrenen Musicaldarstellern unterstützt: Anna Müllerleile gibt die verzweifelte, in der Vergangenheit verhaftete Diane, Kristian Lucas spielt ihren um Harmonie bemühten Ehemann Dan und Timo Rößner steht in den beiden Arztrollen auf der Bühne.
Alle Darsteller sind sehr gut ausgewählt, denn die Paare harmonieren exzellent: von Mansberg und Schattling geben ein Teenager-Paar auf Augenhöhe, und Müllerleile und Lucas vermitteln das Gefühl tiefer Liebe und ins Wanken geratener Vertrautheit sehr glaubhaft. Auer hat als Gabe sehr starke emotionale Momente und auch Rößner weiß als unbeirrbarer Psychotherapeut zu überzeugen.
Etwas fragwürdig ist die – offenbar etwas zu anspruchsvolle – Choreographie mit bunten Kartons (Heidrun Kugel), während sich das Ensemble fragt „Wer spinnt hier?“: Das Weiterreichen der Kartons mag so gar nicht zum Inhalt des Songs passen.
Dass es den jungen Darstellern noch an stimmlicher Festigkeit fehlt, merkt man hier und da durchaus. So sitzen bei Anna von Mansberg nicht alle Töne und auch Timm-Marvin Schattling verfällt häufiger in die Kopfstimme, was den Songs von Tom Kitt und Brian Yorkey nicht gerade gut zu Gesicht steht. Dieses Manko machen Kristian Lucas und insbesondere Anna Müllerleile spielend wett. Beide singen mit viel Gefühl und können die emotionale Achterbahnfahrt ihrer Ehe sehr glaubhaft machen.
Besonders gut gelingen die Szenen, in denen Gabe aktiv ins Geschehen eingreift und nicht nur als Diane’s Halluzination zu sehen ist. Hierzu gehört unbedingt: „Mir fehl’n die Berge“. Auch das Geschirr-Ballett von Vater und Sohn („Alles wird gut“) funktioniert prächtig und trägt dazu bei, diesen an sich doch sehr dramatischen Stoff gut zu verarbeiten.
Anna Müllerleile hat mit „Was weißt Du?“ einen der intensivsten Momente des Abends. Auch das „Lied vom Vergessen“ nach Diane’s Rückkehr von der EKT-Behandlung trifft ins Mark.
Kristian Lucas bringt den unerschütterlichen Optimismus des Vaters sehr anrührend und nachvollziehbar über die Rampe. „Wie konnte mir das entfall’n?“ ist hierfür ein guter Beleg.
Die Ereignisse überschlagen sich als die Tochter ihre Mutter trotz aller Ablehnung ins Krankenhaus bringt und so Verantwortung zeigt. Natalie hat das Gefühl, dass ihre Mutter sie braucht und lässt ihre eigenen Probleme hinter sich. Dass Diane ihre Tochter als Therapieobjekt nutzt, schlussendlich dennoch aber nur für ihren toten Sohn Gabe lebt, führt zum Eklat. Während sich Natalie ihrem Freund Henry öffnet und langsam erkennt, dass Drogen keine Lösung für sie sind, verlässt Diane ihre Familie, und Dan gesteht sich ein, dass sein Sohn immer Teil der Familie bleiben wird.
Als Natalie ihren Vater allein zuhause vorfindet, erkennt sie, dass sie die Bürde der zerrütteten Familie nicht allein tragen muss und dass sie ihrem Vater in seinem Schmerz und seinem Handeln ebenso tatkräftig zur Seite stehen kann, wie er ihr. Der Finalsong, „Es gibt ein Licht!“ zeigt für alle Beteiligten, dass sie positiv in die Zukunft blicken können und müssen.
„Fast normal“ ist der erneute Beleg, dass man auch schwierige Themen musicalisch präsentieren kann, ohne das Publikum hilflos zurückzulassen. Für Eltern und Jugendliche gibt es dennoch hinterher viel Gesprächsbedarf, aber die Art und Weise wie dieses Tabuthema von Kitt und Yorkey bearbeitet wurde, gestattet eine vorurteilsfreie Herangehensweise.
Michaela Flint
Besuchte Vorstellung: 22. Dezember 2015
Darsteller: Anna Müllerleile, Kristian Lucas
Regie: Friedrich von Mansberg
Fotos: Andreas Tamme