Noch bevor der Film richtig losgeht, wird das Publikum mit dem Opening Song in die richtige Stimmung versetzt: Wasserschläuche werden im Rhythmus der Musik bedient, Gullydeckel drehen sich zu lateinamerikanischen Klängen, die die Hauptfigur Usnavi auf seinem täglichen Weg zur Arbeit in seiner kleinen Bodega begleiten. Ganz nebenbei lernen die Zuschauer das New Yorker Viertel „Washington Heights“ und dessen Bewohner kennen, die in diesem Film im Mittelpunkt stehen.
Alex Lacamoire und Bill Sherman (Arrangements) ist es gelungen, die Zuschauer mit dieser Nummer im Kino genauso in die Sitze zu drücken wie im Theater.
„In the Heights“ ist die sehr gelungene Transformation eines Bühnenmusicals auf die Leinwand. 2008 feierte die Show von Lin-Manuel Miranda (Musik) und Quiara Alegría Hudes (Buch) Broadway-Premiere und heimste in der Folge zahlreiche Theaterpreise als erfolgreichstes Musical und die beste Musik ein. Für die Filmversion, die pandemiebedingt ein Jahr später in die Kinos kommt als ursprünglich geplant, haben sich die beiden mit Jon M. Chu („Step up to the Streets“, „Crazy Rich Asians“) zusammengetan und herausgekommen ist ein schwungvolles, kurzweiliges Portrait des Lebens im titelgebenden Barrio. Die Energie und Lebensfreude, die die zumeist lateinamerikanischen Bewohner trotz aller Sorgen haben, erfüllt einen mit Wärme und Zuneigung, wie man sie im Kino selten spürt. Kombiniert mit Mirandas einzigartiger Mischung aus Latino-Sound und Rap erlebt man 140 energiegeladene und pulsierende Minuten im Kino.
Dies liegt aber zu einem großen Teil auch an den sehr sympathischen Protagonisten, allen voran Anthony Ramos, der als Erzähler und Hauptfigur Usnavi im Mittelpunkt des Geschehens steht. Miranda hatte sich die Rolle damals auf den Leib geschrieben, ist er doch selbst im Schatten der George Washington Brücke aufgewachsen
Ramos ist für Musicalbesucher kein Unbekannter: Schon bei der Weltpremiere von Mirandas Hitshow „Hamilton“ stand er an der Seite des Komponisten als Philip Hamilton / John Laurens auf der Bühne.
Sein Usnavi ist durch und durch gutherzig. Er stellt das Glück der anderen immer über das eigene, ohne jedoch seinen „sueñito“ – in die Dominikanische Republik auszuwandern und die Strandbar seines Vaters wieder aufzubauen – aus den Augen zu verlieren. Diese Herzenswärme, Güte und in einigen Situationen auch Naivität verkörpert Ramos perfekt. Ganz zu schweigen davon, dass er mit den unaussprechlich schnellen, textlastigen Raps genauso spielend klarkommt wie mit den leidenschaftlichen Latino-Songs.
Eine Änderung im Vergleich zu Bühnenfassung ist, dass Usnavi nicht der Onkel, sondern der Cousin von Sonny (Gregory Diaz IV) ist. Doch auch auf der Leinwand arbeiten die beiden zusammen in Usnavis Bodega und Usnavi unterstützt den jungen Mann wo immer er kann. Sonny wiederum revanchiert sich, indem er das lange überfällige Date zwischen Usnavi und Vanessa einfädelt. Manchmal braucht auch der netteste Mensch einen kleinen Schubs in die richtige Richtung…
Dass zu dieser Figur eine politische Botschaft eingeflochten wurde, ist mehr als legitim: Sonny ist mit seinen Eltern als Säugling illegal ins Land gekommen. Er darf keinen Uni-Abschluss machen und sieht sich – wie so viele andere – mit der Ausweisung der sogenannten „Dreamers“ konfrontiert. Auf einer Demo gegen diese Maßnahmen sieht Sonny die Chancen, seinen Lebenstraum zu verwirklichen, dahinschwinden… Doch mit Usnavis Hilfe geht er gegen die Ungerechtigkeiten vor. Ob er einen Abschluss machen wird oder überhaupt im Land bleiben darf, bleibt offen.
Benny, ein treuer Kunde und guter Freund von Usnavi, wird von Corey Hawkins gespielt. Autor Hudes erläutert die Wahl des maximalpigmentierten Darstellers damit, dass in seinem Viertel immer „honorary Latinos“ bei gemeinsamen Essen und Aktivitäten dabei waren. Keine Latinos qua Geburt, auch nicht unbedingt Spanisch sprechend, aber als Freunde zur Gemeinschaft gehörend. Genau so sieht er auch Hawkins.
Benny ist charmant und hilfsbereit, auch er strahlt eine große Lebensbejahung aus. Dass er zudem auch gesanglich und tänzerisch in der obersten Liga mitspielt, macht ihn zur perfekten Besetzung. „Benny’s Dispatch“ hat eine wunderbare Energie, die von Hawkins dank seiner warmen, vollen Stimme ideal intoniert wird.
Benny arbeitet im Taxi-Unternehmen von Kevin Rosario, der alles dafür tut, dass seine Tochter Nina in Stanford ihren Abschluss macht. Sie soll es einmal besser haben als er. Sogar sein halbes Geschäft hat er schon geopfert, um die Studiengebühren zu zahlen. Als immer besorgter Vater ist Jimmy Smits gecastet worden, der vielen aus „Starwars“ durchaus bekannt sein dürfte. Er ist nicht der beste Sänger, aber auch ihm scheint die im Film allgegenwärtige herzliche Lebenseinstellung eigen zu sein. Zunächst noch ablehnend gegen Benny, der ihn zwar im Job perfekt entlastet, aber andererseits Nina von ihrem Studium abhält, lässt Kevin immer mehr los und seine Tochter ihre eigenen Entscheidungen treffen. Smits kann die Gedanken und Gefühle des besorgen Vaters sehr gut vermitteln.
Apropos Nina, sie ist sicherlich eine der spannendsten Figuren von „In the Heights“: Nina kommt aus einer Arbeiterfamilie, der Vater hat alles aufgebaut, um seiner Familie ein gutes Leben zu ermöglichen und seine Tochter auf die Uni zu schicken. In Stanford wird Nina jedoch geringschätzig behandelt, erlebt täglich Rassismus und fühlt, dass sie dort nicht hingehört. Sie schmeißt das Studium, kehrt zurück und verschweigt zunächst, dass sie nicht weiß, wie es weitergehen soll. Sie möchte ihren Papa ja auch nicht enttäuschen… Im Laufe der Handlung eröffnen sich ihr – auch dank Benny und Usnavi – immer neue Blickwinkel und am Ende entscheidet sie sich, den „Dreamers“ zu helfen, zu ihrem Recht zu kommen. Sie bleibt bei ihren Wurzeln und nutzt all das, was ihr das Leben mitgegeben hat, um sich für ihre Gemeinschaft einzusetzen. Mit Leslie Grace wurde eine exzellente Sängerin (dreifach nominiert für den Latin Grammy) und sehr authentische Schauspielerin gewählt, die genau verstanden hat, wie hin- und hergerissen Nina sich fühlt.
Im Gegensatz zur Bühnenversion lebt Ninas Mutter im Film nicht mehr. Stattdessen wurde die Rolle der Schönheitssalon-Besitzerin Daniela geschaffen, die mit ihrer Lebensgefährtin Carla den letzten Gossip aus dem Barrio ausschweifend kommentiert und kostenlos an alle Kundinnen weitergibt. Aber auch Daniela muss sehen, wie sie über die Runden kommt und zieht daher mit ihrem Salon weg. Vorher jedoch rüttelt sie mit dem „Carnaval del Barrio“ nochmal alle gehörig wach. Sowohl Daphne Rubin-Vega („Rent“, „Smash“) als Daniela als auch Stephanie Beatriz als Carla gelingt die Gratwanderung zwischen Trash und Klischee sehr gut. Auch die bei „No Me Diga“ im Regal mitwippenden Perückenköpfe passen perfekt in diese schräge, aber dennoch liebevolle Umgebung.
Eine, die mit dem Kopf in den Wolken lebt, ist Vanessa. Sie möchte unbedingt Modedesignerin werden und lässt nichts unversucht, um Downtown eine eigene Wohnung zu bekommen, Washington Heights hinter sich zu lassen und durchzustarten. Die visualisierten U-Bahn-Fahrten – in Vanessas Fall mit Stoffbahnen, Nagellack, Lippenstift usw. – zeugen einmal mehr von einer unglaublichen Kreativität bei den Machern!
Doch auch sie stößt immer wieder an Grenzen und übersieht, mit wieviel Liebe und Freundschaft sie dank der Gemeinschaft im Barrio gesegnet ist. Usnavi, der Vanessa schon lange liebt, ist es schließlich, der ihr hilft, eine Wohnung zu bekommen und unabhängig zu werden. Zumindest sieht es so aus, aber am Schluss kommt doch alles ganz anders…
Melissa Barrera füllt diese Rolle sehr gut aus. Sie ist selbstbewusst, verletzlich und verschließt ihr Herz. Barrera konnte sich ganz offensichtlich dank ihrer eigenen Geschichte – sie ist aus den USA zunächst in ihr Heimatland Mexiko gegangenn, um dort Karriere zu machen – sehr gut mit diesem Charakter identifizieren.
Als „Matriarchin“ wacht Abuela Claudia über ihre Gemeinschaft aus Menschen, die aus Mexiko, der Dominikanischen Republik, Kolumbien, Venezuela und Puerto Rico aus verschiedensten Motiven in die USA gekommen sind. Olga Merediz war für das Kreativteam die einzige Darstellerin, die für diese Rolle in Frage kam. Sie hat schon am Broadway das Publikum als Abuela zum Lachen gebracht und zu Tränen gerührt. Dieses Kunststück gelingt ihr auch mit ihrer Leinwand-Performance. Abuela Claudias süßes Lebensmotto „Paciencia y Fé“ zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Sie hält die Gemeinschaft zusammen, hat immer einen guten Rat parat oder eine Schulter zum Anlehnen. Mit dem zerbrechlich zartfühlend beginnenden Solo „Paciencia y Fé“ zeigt Merediz eine atemberaubende Leidenschaft und Bandbreite an Gefühlen. Man möchte diese Frau am Ende ihres schweren Lebens einfach nur in den Arm nehmen. Ohne Taschentücher gehts hier nicht!
Auch szenisch ist dieser Song traumhaft umgesetzt. Bilder, Farben – alles fließt zu einer Einheit zusammen. Schaut man sich im Abspann die Originalfotos der Washington Heights an, kann man genau erkennen, woher die Filmemacher ihre Inspiration für diese Szene bekommen haben.
Natürlich ließ sich das Kreativteam einige Side-Kicks auf „Hamilton“ nicht nehmen. So verkauft Lin-Manuel Miranda als Piragüero das begehrte, traditionelle „Piragua“ und muss sich dabei der Konkurrenz durch den Softeismann erwehren, der von Christopher Jackson gespielt wird. Bei der Broadway-Premiere von „In the Heights“ gab Jackson den Benny und kreierte 2015/2016 den George Washington in „Hamilton“. Die gesangliche Auseinandersetzung von Miranda und Jackson ist vor diesem Hintergrund noch um einiges amüsanter.
Aber auch im „Carnaval del Barrio“ ist Miranda noch mehrfach zu sehen und zu hören. Dies ist herzerwärmend, besonders wenn man überlegt, wie lange es gedauert hat, bis er mit seinen beiden bekanntesten Musicals weltweit Erfolge feierte. Sein „sueñito“ ist wohl vollumfänglich in Erfüllung gegangen!
Einen berechtigten Lacher erntet Miranda auch dafür, dass er als Warteschleifen-Musik der Universität Stanford einfach „You’ll be back“ aus „Hamilton“ einspielt.
„In the Heights“ ist in wirklich in jeder Rolle großartig besetzt. Es sind tatsächlich die kleinen Details, die der Welt zeigen, dass man nicht unsichtbar ist. Besser als Abuela Claudia kann man dieses Gefühl der Wärme und Zusammengehörigkeit nicht beschreiben.
Die Energie jedes einzelnen Darstellers wird nur in den beeindruckend umgesetzten Ensemblenummern getoppt. Christopher Scott zeichnet für die Choreographien verantwortlich und hat mit bis zu 500 Akteuren ein beachtliches Statement gesetzt: Die Schrittfolgen sind abwechslungsreich und sprühen vor lateinamerikanischer Lebensfreude. Mindestens genauso atemberaubend sind die waghalsigen Break Dance Einlagen.
Bei „96.000“ wird die Unterhaltung der Protagonisten durch putzige Animationen noch plakativer gemacht. Eine hübsche Idee, die im Gegensatz zur anschließenden, arg übertriebenen Pool-Party, sehr gefällt.
Die Synchron-Schwimm-Einlagen im Schwimmbad sind beeindruckend und einwandfrei synchron, zumal mit so einer großen Anzahl „Tänzer“. Diese Szene ist aber die einzige, wo das Kreativteam etwas über das Ziel hinausgeschossen ist. „The Club“ und „Black Out“ verfehlen dagegen ihre Wirkung nicht. Tolle Choreos, exzellente Sängerinnen und Sänger, jede Menge „pura vida“!
Emotional geerdet wird das Publikum durch das traurige „Alabanza“, in der das gesamte Barrio Abschied nimmt von seiner Abuela Claudia. Einmal tief durchatmen…
Doch mit dem „Carnaval del Barrio“ geht es energiegeladen weiter und farbenfrohe (die verschiedenen Flaggen), lebensbejahende (die vielen Liebespaare) Elemente beherrschen das Geschehen. Man wippt unweigerlich mit den Füßen mit und möchte mittanzen… Soviel Energie – da gerät man schon beim Zuschauen aus der Puste!
Zum Ende hin wird es filmisch noch einmal sehr cool: Benny und Nina tanzen zu „When the sun goes down“ auf ihrem Balkon, doch plötzlich kippt das Haus zur Seite und sie schweben über die Fassade und Fensterscheiben – sehr phantasievoll!
Usnavis und Vanessas finales Duett „Bottle of Champagne” ist irgendwie tolpatischig-romantisch und zeigt, dass Timing manchmal doch alles ist…
Der schönste Twist ist jedoch, dass Usnavi seine Geschichte gar nicht den Kindern am Strand erzählt, so wie die erste Szene die Zuschauer glauben machen will. Nein, am Ende sitzt er vor seiner Tochter und deren Freunden in seiner völlig verwandelten Bodega: Vanessa hat am Tag ihres Abschieds Inspiration in Petes Graffitis gefunden und diese sowohl für die Umgestaltung der Bodega als auch für ihre neuesten Kreationen genutzt. Usanavi sieht sich einem sehr gelungenen Wandbild der zerstörten Strandbar seines Vaters gegenüber und überall stehen Schaufensterpuppen herum. Er sieht nun die Welt durch Vanessas Augen und weiß, dass sein Platz hier ist und die Dominikanische Republik, seine Heimat, immer dort sein wird, wo er ist.
Selten bin ich so beseelt, inspiriert und voller positiver Gedanken aus dem Kino gekommen. Lin-Manuel Miranda hat sich gewünscht, dass der positive Spirit seines Films die Zuschauer begleiten wird. Ich würde sagen: Mission accomplished!
Michaela Flint
Darsteller: Anthony Ramos, Corey Hawkins, Leslie Grace, Melissa Barrera, Olga Merediz, Daphne Rubin-Vega, Gregory Diaz IV, Stephanie Beatriz, Dascha Polanco, Jimmy Smits, Lin-Manuel Miranda
Musik: Lin-Manuel Miranda
Verleih / Fotos: Warner Bros