Vater König, Kiezbekannte Schnapsnase und auf ganz St. Pauli nur Käpt’n genannt, wirft jeden Cent, den seine Sprösslinge heranschaffen, mit Schwung wieder zum Fenster raus. Soweit die Kurzbeschreibung des neuesten Musicals des auch über die Hamburger Grenzen hinaus bekannten und bewährten Kreativteams Martin Lingnau (Musik, Idee, Buch), Heiko Wohlgemuth (Songtexte, Buch), Mirko Bott (Buch) und Corny Littmann (Regie).
„Die Königs vom Kiez“ ist jedoch wesentlich vielschichtiger als man es vom Hamburger Schmidt Theater gewohnt ist. Auch eine gehörige Portion Sozialkritik ist in dieser Musicalkomödie verpackt. Es kann für dieses Stück keinen passenderen Spielort geben – sowohl für die Rahmenhandlung als auch für die Bühnenshow – als das Schmidt Theater, das am 8. August seinen 25. Geburtstag auf dem Spielbudenplatz feierte und damit eine feste Größe der Hamburger Unterhaltungsbranche darstellt.
Es geht um Familie König, bestehend aus der pflegebedürftigen Oma, dem alkoholkranken Papa, der Teeniemutter Pamela mit Sohn Brutus, den Zwillingen Benny und Björn, die als aufstrebender Musicaldarsteller und Kleinkrimineller ihr Bestes geben sowie Marie, die als älteste Tochter nicht nur die Familie zusammenhält, sondern auch dafür sorgt, dass die Wohnung nicht endgültig zum Schweinestall verkommt. Nachbarin Berta, die mehr als nur ein Auge auf den Käpt’n geworfen hat, gehört ebenfalls schon fast zur Familie. Sozialarbeiter Alex hat sich trotz aller widrigen Umstände in die patente Marie verliebt und gibt sich redlich Mühe, sie zu erobern.
Das Geld ist bei Familie König eh schon mehr als knapp und als dann plötzlich eine Räumungsandrohungl ins Haus flattert, ist Kreativität gefragt. 7.500 Euro in einer Woche – wie soll das bloß gehen? Während Pamela kurzerhand ihre Liebhaber um Alimente für Brutus erpresst, Benny seine Marihuana-Pflanzen zu Geld macht und Björn sich zur großen Erschütterung aller als HSV-Maskottchen verdingt, der Käpt’n auch noch das Pfandgeld in seiner Kneipe versäuft, sucht Marie nach Wegen, um weitere Kosten zu sparen.
Kurz scheint ihnen das Glück hold als Oma bei der Glücksspirale eine lebenslange Sofortrente von 7.500 Euro gewinnt. Dumm nur, dass sie in derselben Nacht noch stirbt. Nun ist guter Rat teuer – woher bekommt man eine neue Oma, die die Notarin überzeugt und wohin mit der toten Oma? Keine Sorge – zumindest für das letzte Problem hat Papa König eine Idee: Oma wird einfach auf dem Recyclinghof entsorgt! Und auch das mit der neuen Oma lösen die Königs auf ihre eigene, ungewöhnlich-charmante Weise. Am Schluss gibt es großes Happy End in vielerlei Hinsicht und die Erkenntnis: „Alles ist hier Karma!“
Natürlich läuft in dieser Show nichts so wie geplant – sonst wären wir nicht im Schmidt’s, sondern im Schauspielhaus oder Thalia Theater. Aus dem „Souterrain des Lebens“ hat der Zuschauer einen ganz anderen, sehr direkten Blickwinkel auf die schmutzige Seite des Hamburger Kiez. Der ausgeprägte Hamburger Akzent, inklusive typisch hamburgischer Ausdrücke und zum Teil sehr rauem Umgangston, zeigt überdeutlich, wo wir uns befinden. Authentischer geht es nicht! Selbstverständlich ist man als Bewohner des Stadtteils St. Pauli, zum dem Reeperbahn und Kiez gehören, auch Fan des Zweitligisten 1. FC St. Pauli. Kein Wunder also, dass nicht nur Käpt’n König fast in Ohnmacht fällt, als einer seiner Söhne im Dino-Kostüm des HSV-Maskottchens Hermann nach Hause kommt. Das grenzt ja beinahe an Hochverrat!
Ja, es wird mit Klischees gespielt. Noch ein Beispiel? „Deinen Grünkohl kannst Du höchstens in Pinneberg als Gras verkaufen!“ Echte Hamburger lachen darüber ganz sicher…
Die Protagonisten nehmen kein Blatt vor den Mund. Sowohl Songtexte als auch Dialoge sind wunderbar bissig und treffen den Nagel mehr als einmal auf den Kopf: „Du steckst doch immer in der Scheiße: Nur die Tiefe ändert sich!“, „Ich bin der einzige Mensch, der aufwacht, um einen Albtraum zu haben.“, „Habt Ihr mal versucht, Euch nach eineinhalb Liter Blut spenden, einen von der Palme zu wedeln?“ Zartbesaitete Gemüter trauen sich vielleicht nicht, diesen derben Humor anzunehmen, doch in „Die Königs vom Kiez“ ist er so charmant verpackt, dass man gar nicht anders kann als zu lachen.
Die Charaktere sind Unikate und als solche sehr stark, einmalig und trotz aller Fehler liebenswert. Götz Fuhrmann erinnert als Papa König, also als Käpt’n, an eine Mischung aus Michael Keaton und Udo Lindenberg. Dass er tatsächlich NICHT betrunken ist, glaubt man ihm kaum. Der leicht federnde Gang, die lallende Sprache, die rudernden Arme – ja, solche Leute trifft man oft (aber nicht nur) auf dem Kiez. Carolin Spieß als latent notgeile Nachbarin Berta klingt wie Heidi Kabel, benimmt sich aber so gar nicht wie eine Dame. Wenn sie zu ihrem ganz besonderen „La Paloma Ohe“ ansetzt, mit dem sie den Käpt’n von ihren Reizen überzeugen will („Auf alten Schiffen lernt man segeln“), bleibt kein Auge trocken. Auch ihre hamburgische Eloquenz (Spargel, Mohn, Austern etc sind „Aphrodiaphragma“) ist herzerweichend. Auch die gestrenge Notarin Winkelmüller bringt sie gekonnt über die Rampe.
Lisa Huk ist als Teeniemutter mit ihrem Baby komplett überfordert, markiert aber immer die Starke. Sie weiß genau wie sie Männer um den kleinen Finger wickelt. Stefan Stara spielt die Zwillinge Benny und Björn und springt zwischen der kreativen und angepassten Kiezwelt hin und her: Mal ist er der besonnene zielstrebige Björn, der sich für seine Familie aufopfert, dann wieder der immer gut gelaunte Benny, der den ewig grummeligen Dealer davon überzeugen versucht, dass Drogen verkaufen Spaß macht und man lächelnd noch mehr Erfolg hat. Beim Song „St. Pauli“ kann er auch tänzerisch aus dem Vollen schöpfen. Seine Energie ist absolut mitreißend.
Stefan Rüh spielt den vermeintlichen Sozialarbeiter Alex, der sich später als Polizist outen muss, genauso charmant und überzeugend wie den gescheiterten Geisteswissenschaftler, der in der Stammkneipe vom Käpt’n das Bier zapft und seine Gäste pseudophilosophisch erfreut. Gleich fünf Rollen übernimmt Tim Koller – dabei zeigt er als verliebter Inder Ranjid, schwuler Priester, gefährlicher Dealer, pflichtbesessener Bofrosthorst und schillernde Lottofee eine große Bandbreite an schauspielerischem und komödiantischem Talent. Ihm kommt mit „Alles ist hier Karma!“ auch Moral von der Geschichte zu.
Bleibt noch Nadine Schreier, die als Marie zwischen dem Verantwortungsgefühl gegenüber ihrer Familie und ihren eigenen Gefühlen und Träumen hin- und hergerissen ist. Man kann ihren Konflikt gut nachvollziehen und möchte ihr unbedingt helfen.
Die durchaus vielschichtigen Charaktere machen „Die Königs vom Kiez“ zu einer außergewöhnlichen Eigenproduktion. Selten hat man im Schmidt Theater ein so rundes, stimmiges Musical gesehen: Heiko Wohlgemuths knackige, treffsichere Texte, Martin Lingnaus schwungvolle, vertraute Melodien, die sehr gute Personenregie Corny Littmanns und durch die Bank exzellente Schauspieler und Sänger machen dieses Stück zu einem Hamburger Original. Getoppt wird das Ganze durch die anspruchsvollen, abwechslungsreichen Choreographien von Benjamin Zobrys, die insbesondere im Albtraum des Käpt’ns, in dem er und seine Familie vor Dieter Bohlen auftreten und sich nieder machen lassen müssen, und im Finale zur Geltung kommen.
Sie möchten einen Blick hinter die schillernden Fassaden der Theater, Striptease-Bars und Musik-Clubs auf dem Hamburger Kiez werfen? Schauen Sie sich „Die Königs vom Kiez“ an und sie bekommen einen guten Eindruck, wie einige Menschen dort teilweise leben (müssen).
Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin
Premiere: 6. September 2013
Darsteller: Götz Fuhrmann, Lisa Huk, Tim Koller, Stefan Rüh, Nadine Schreier, Carolin Spieß, Stefan Stara
Musik / Regie: Martin Lingnau / Corny Littmann
Fotos: Oliver Fantitsch