home 2015 Offensiv und auf den Punkt, ohne billig zu wirken

Offensiv und auf den Punkt, ohne billig zu wirken

„The Life“ beschreibt auf eindrucksvolle, ungeschönte Art das Leben von Prostituierten, Revierkämpfen zwischen Zuhältern und den Träumen von einem besseren Leben.

Queen lebt mit Fleetwood zusammen – sie geht anschaffen, er verdingt sich als glückloser Zuhälter – beide mit dem Ziel, bald aus dem billigen Ein-Zimmer-Apartment in die schöne New Yorker Vorstadt ziehen zu können. Doch Fleetwood verfällt dem Kokain erneut und gibt dafür ihr gemeinsames Geld aus. Queen sucht Zuflucht bei Sonja, ebenfalls eine Prostituierte, für die es aber nach eigener Aussage zu spät ist, den Absprung in die Welt abseits von gekauftem Sex und Drogen zu schaffen. Verblendet durch Trauer und Eifersucht, da Fleetwood sich plötzlich einer jüngeren, sehr naiven Landschönheit zuwendet, lässt sich Queen auf ein Hilfsangebot von Memphis ein, dem gnadenlosesten Zuhälter der Gegend. Der wiederum nutzt seine Chance, seinem Widersacher Fleetwood endlich richtig eins auszuwischen und zwingt Queen – da sie sich weigert, ihm so zu Diensten zu sein, wie er es will – ohne Bezahlung mit den ekligsten Freiern zu schlafen, die es gibt.

Nachdem sich Landschönheit Mary in der Nachtszene innerhalb kürzester Zeit einen Namen gemacht hat und von einem schmierigen Pornoproduzenten in Los Angeles engagiert wird, fällt Fleetwood plötzlich wieder ein, was er an Queen gehabt hat. Er möchte sie zurückgewinnen, doch es ist zu spät. Queens Entschluss zu fliehen und diesem Leben ein Ende zu machen, steht fest. Im finalen Handgemenge ersticht Memphis Fleetwood und Queen erschießt Memphis. Sonja überzeugt sie, dennoch zu gehen und nimmt die Schuld für die das Geschehene auf sich.

Das English Theatre in Frankfurt hat nicht ohne Grund einen sehr guten Ruf, wenn es um Musicals geht. Auch im Fall von „The Life“ harmonieren alle Gewerke ganz vorzüglich: Die sechsköpfige Band spielt Cy Colemans Songs so lupenrein, dass das Publikum am Schluss überrascht ist, Live-Musik gehört zu haben. Das düstere Bühnenbild (Tim McQuillen), in dem mithilfe von Leuchtstoffröhren und Glühbirnen in verschiedenen Farben immer wieder neue Szenen erschaffen werden, passt zur dunklen Rahmenhandlung des Stücks.

Claudia Kariuki überzeugt als Sonja schon in der ersten Szene. Ihre Stimme ist sehr gut, ihre Energie und Lebensfreude fassbar. Sie singt die eigentliche Hauptfigur Queen (gespielt von Ngozi Ugoh) in die Ecke. Doch auch Ugoh gibt an diesem Abend keinen Grund zur Klage.

Die beiden männlichen Hauptrollen, Fleetwood und Memphis werden von Samson Ajewole und Cameron Johnson gegeben. Während Ajewole vor allem im Gesang seine Stärken hat, bleibt Johnson durch seine umfassende Bühnenpräsenz, seine beeindruckende Mimik und seine tiefe Sprechstimme in Erinnerung. Von den weiteren neun Darstellern, die an diesem Abend auf der Bühne des English Theatre stehen, sind es Newtion Matthews als Barkeeper Lacy und Hannah Cadec als Mary, die starke Momente haben. Die Verwandlung von der naiven Mary in die selbst- und durchaus körperbewusste Stripteasetänzerin ist absolut glaubwürdig. Matthews kann seine tänzerischen Wurzeln nicht verhehlen, macht aber als Barkeeper und Host beim Ball auch schauspielerisch und gesanglich keine schlechte Figur.

Die Choreographien von Gary Lloyd sind sexy, energisch und spiegeln die Gemütszustände der Protagonisten in den jeweiligen Szenen gut wider. Besonders amüsant sind die Szenen „Mr Greed“ und „Hooker’s Ball“, bei denen das Zusammenspiel aus Musik, Kostümen und Tanz sehr gut gelingt. Insbesondere „Hooker’s Ball“ ist bunt und herrlich schlüpfrig inszeniert. Hier nicht zu erkennen, worum es geht, ist unmöglich, denn es werden nicht nur Zuckerstangen als Phallussymbole verwendet, sondern auch ein überdimensionaler, aufblasbarer Phallus in die Choreographien integriert.

Ryan McBryde hat das Stück sehr ansprechend inszeniert. Es gibt keine Längen, die Charaktere sind authentisch und man kann ihr Handeln gut nachvollziehen. Die Kostüme der „Nachtarbeiterinnen“ sind abwechslungsreich und sehr sexy, während die Anzüge der Herren durchaus die ein oder andere Nummer größer hätten ausfallen dürfen.

Die einzige Schwäche an diesem Abend liegt im Gesang, wenn auch auf sehr hohem Niveau. Ausnahmslos alle Leadsänger treffen die Töne und legen die richtige Dosis Emotionen in ihren Gesang. Und doch fehlt am Ende das „Wow!“, das Besondere, welches man in einem Stück von Cy Coleman, das vor lauter Soul aus den musikalischen Nähten zu platzen droht, erwartet.

So hat beispielsweise Memphis’ „My Way or the High Way“ einen hohen Gänsehautfaktor, Johnson interpretiert den Song auch sehr gut und intensiv, doch es fehlt das letzte Quäntchen. Gleiches gilt für „Easy Money“ von Handlanger Jojo, Mary und Fleetwood: Der Song ist schwungvoll und glaubhaft vorgetragen, doch das gewisse Etwas bleibt auf der Strecke. „You can’t get to Heaven“ hat viele Soul- und Gospelelemente, aber es gelingt nicht, diese Intensität auf das Publikum zu übertragen. Die finale Nummer der Prostituierten („Someday is for the Suckers“) ist unglaublich tragisch, doch auch hier will sich keine Gänsehaut einstellen – genauswenig wie beim Abschied von Sonja und Queen („My Friend“), der durchaus herzanrührend inszeniert ist.

Es ist schwer zu sagen, woran dies liegt, denn wie erwähnt, singen die Künstler die Songs auf qualitativ einwandfreiem Niveau. Vielleicht ist es ein individuelles Empfinden, das die Erwartungshaltung an soulige Songs sehr hoch ansetzt. Nichtsdestoweniger ist „The Life“ einmal mehr der Beleg dafür, dass im Herzen Deutschlands herausragende Musicalproduktionen in Originalsprache geboten werden. Das English Theatre in Frankfurt hält seinen guten Ruf auch in dieser Spielzeit erfolgreich aufrecht.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: English Theatre, Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 12. November 2015
Darsteller: Claudia Kariuki, Ngozi Ugoh, Samson Ajewole, Cameron Johnson
Musik / Regie: Cy Coleman / Ryan McBryde
Fotos: Martin Kaufhold