home 2020 Modernes Musiktheater zum Abgewöhnen

Modernes Musiktheater zum Abgewöhnen

Jedes Kind kennt Lewis Carrolls phantasievolle Geschichte der kleinen Alice, die in ihrem Wunderland auf allerlei wundersame Gestalten trifft: der verrückte Hutmacher, der weiße Hase, die Herzkönigin, Diddeldum und Diddeldei (Humpty Dumpty), die Grinsekatze und Raupe Absolem nicht zu vergessen.

Nach dem deutlich bekannteren „Black Rider“ ist „Alice“ bereits die zweite Zusammenarbeit von Tom Waits (Musik) und Robert Wilson (Regie, Design und Visual Concept der Originalproduktion) für die Theaterbühne. Premiere hatte das vom Verlag Felix Bloch Erben als Avantgarde-Musical bezeichnete Stück bereits 1992.

Das Theater Lübeck hat– entgegen seiner sonst so erfolgreichen Art einen Musical-Klassiker zu zeigen – in dieser Spielzeit dieses sicherlich nicht Mainstream-taugliche Musiktheaterstück auf den Plan gesetzt.

Die Besetzung besteht vorrangig aus Schauspielern, was aber bei diesem Stück am Ende nicht ausschlaggebend ist, da es beim vorherrschenden Sprechgesang nur ganz am Rande auf Gesangstalent ankommt.

Schon der Auftakt, der wohl Lewis Carroll in seinem Gedankenschloss zeigen soll, ist sehr verstörend, hängen in seinem Zimmer doch allerhand seltsame Fotos an den Wänden. Dass er beginnt die erwachsene Alice zu fotografieren und im Hintergrund dasselbe Motiv jeweils mit einem Kind erscheint, entbehrt jeglicher Logik. Schlussendlich „geht“ Alice durch eines dieser Fotos und landet in ihrem Wunderland.

Dort ist alles in Weiß und mit Buntstiftzeichnungen der Kulissen (Tische, Küche, Blumen, etc.) umgesetzt. Optisch passiert auf der Bühne (Luisa Wandschneider) nicht viel. Man fühlt sich auf irritierende Weise an eine Irrenanstalt erinnert. Denn auch Alices Suche nach dem weißen Hasen und ihr immer wieder durchdringender Wille nach der Rückkehr in ihr Zuhause wirken bisweilen vollkommen orientierungslos und sinnfrei.

Das Theater empfiehlt dieses Stück bewusst erst ab 14 Jahren, aber auch mit über 40 Jahren überfordert einen diese Inszenierung von Malte C. Lachmann. Und auch wenn Tiago Manquniho als Choreograph genannt ist, fragt man sich unweigerlich, was er denn genau tänzerisch aufbereitet hat, denn Tanzsequenzen bleiben einem beim besten Willen nicht in Erinnerung.

Tom Waits ist musikalisch keine leichte Kost, was sich im Laufe des Abends immer wieder bestätigt. Verstörender Sprechgesang, disharmonische Melodien und dazu noch deutsche Texte (Wolfgang Wiens), die in den Ohren schmerzen. Sechs Musiker und sieben Darsteller bemühen sich redlich, hier etwas Ansprechendes für das Publikum zu zeigen, doch der Funke springt zu keinem Zeitpunkt über.

Astrid Färber überzeugt als hilflose und verwirrte Alice, und dass sie gesanglich mehr zeigen könnte, klingt an der ein oder anderen Stelle durchaus an. Die übrigen Darsteller stehen jeweils in bis zu acht Rollen auf der Bühne, wobei jeder sein eigenes Highlight zu setzen weiß: Andreas Hutzel als eher gruseliger, irgendwie pädophil anmutender weißer Hase, Lilly Gropper als durchgeknallte Herzogin, Susanne Höhne als gefährliche und gnadenlose Herzkönigin, Will Workman als hektischer, strenger Hutmacher, Heiner Kock als exzentrischer Frosch und Henning Sembritzki als besserwissende Raupe und zottelige Grinsekatze.

Es ist schwer, die bekannte Handlung in diesem Wirrwarr an Dialogen und selten passenden Songs wiederzuerkennen. Wären nicht die bekannten Charaktere würde dies gänzlich misslingen.

Bleibt zu hoffen, dass dieses „Avantgarde-Musical“ eine Ausnahme in Lübeck bleibt und man sich in der kommenden Spielzeit wieder auf weniger avantgardistische und leichter bekömmliche Unterhaltung besinnt.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Theater Lübeck
Premiere: 8. Februar 2020
Darsteller: Astrid Färber, Andreas Hutzel, Lilly Gropper, Susanne Höhne, Will Workman, Heiner Kock, Henning Sembritzki
Regie / Musik: Malte C. Lachmann / Tom Waits
Fotos: Kerstin Schomburg