home 2014 Eine nicht ganz runde Weltpremiere

Eine nicht ganz runde Weltpremiere

Ähnlich wie bei „Rocky“ vor zwei Jahren hat sich die Stage Entertainment bei „Das Wunder von Bern“ erneut an die Kombination eines sportlichen Themas mit Musiktheater gewagt. Zumindest sind es der Fußball und der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954, die den Handlungsrahmen für „Das Wunder von Bern“ bilden.
Basierend auf dem gleichnamigen Film von Sönke Wortmann (2003) geht es aber weniger um den Fußball als vielmehr um den nach zwölf Jahren Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Richard Lubanski, der sich nur langsam wieder an sein altes Leben gewöhnt. Im Mittelpunkt des Films steht hierbei die Beziehung von Richard zu dessen Sohn Matthias, der erst nach seinem Einberufungsbefehl geboren wurde, weshalb die beiden sich erst einmal überhaupt kennenlernen müssen.

Film und Musical enden beide im doppelten Happy End: Deutschland wird Fußball-Überraschungsweltmeister und Richard und Matthias finden als Vater und Sohn zueinander.

2011 ließ die Stage Entertainment eigens für diese Eigenproduktion im Hamburger Hafen ein neues Theater bauen, welches Anfang November mit viel Pomp eröffnet wurde. Ob der Bau wirklich das architektonische Juwel ist (von der Stage Entertainment im Programmheft so benannt), kann jeder selbst entscheiden. Doch der graue, an einen Helm erinnernde, Theaterbau fügt sich weder in das Hafenbild ein, noch sorgt das schlichte weiß-rote Foyer für Wohlfühl-Atmosphäre. Vielmehr erinnert der neutrale Bau an ein Museum wie es in jeder größeren Stadt stehen könnte. Dieser Eindruck wird durch die ausgestellte Kunst zusätzlich bestärkt.

Doch im Musiktheater geht es ja nicht um das „Draußen“, sondern um das Geschehen auf der Bühne. Und das beginnt sehr beklemmend: Zur Ouvertüre werden auf der bühnenfüllenden Leinwand Bilder aus dem Nachkriegs-Deutschland gezeigt und der Zuschauer wird Luftlinie in die graue Tristesse des Ruhrpotts geflogen. Nach einem sehr getragenen Auftakt, in dem Matthias‘ (Riccardo) Fußballliebe deutlich wird, folgt die im Laufe des Abends mehrfach wiederholte Schunkelnummer „Dat wird doch nie wat“. Die Ankunft Richards (Detlef Leistenschneider) am Essener Hauptbahnhof gelingt dank der guten Projektionen (Ad de Haan, Timm Ringewaldt) sehr plastisch. Die Szene, in der die frisch gebackene Anette Ackermann (Elisabeth Hübert) ihrem Gatten, Sportjournalist Paul (Andreas Bongard), die Hochzeitsreise schmackhaft machen möchte, wird auch dank der im Hintergrund schnell wechselnden Motive – von Frauenkirche, Schiefem Turm von Pisa, Eiffelturm bis hin zu Big Ben – zu einer in sich stimmigen Comedy-Nummer.

Eine weitere Szene, die durch die Videoleinwand stark gewinnt, ist die Abfahrt der Kumpel in den Schacht, in dem Richard dann einen sehr intensiven Kriegs-Alptraum durchlebt.
Parallel bereitet sich die Fußball-Nationalmannschaft mit ihrem Trainer Sepp Herberger (in der Medienpremiere am 22.11. gespielt von Michael Ophelders) auf die WM vor. Die Liegestützen, die Ophelders alias Herberger seinen jugendlichen Spielern vormacht, bekommen die deutlich hörbare Anerkennung der Zuschauer.
Als Adi Dassler (Jogi Kaiser) den Fußballern ihre neuen Schuhe vorstellt und die Jungs diese direkt in einer an „Rock the Ballet“ erinnernden Choreographie ausprobieren, wirkt die Verquickung von Fußballtraining und Jazztanz doch arg verwirrend. Simon Eichenbergers Choreographien sind durchaus anspruchsvoll und begeistern, doch in das Gesamtbild wollen sie nicht so recht passen.
Gleiches gilt für den parallelen Handlungsstrang, der die Rebellion von Richards Sohn Bruno (David Jakobs) gegen die Nationalsozialisten aufzeigen soll: Mit Rock‘n‘Roll setzt sich Bruno eindrucksvoll für den Kommunismus ein. Wie das jedoch zusammenpasst – westliche Rockmusik und östliche Politansichten -, bleibt ungeklärt.

Doch das Ensemble tanzt sich schwungvoll durch die typischen 50er Jahre Klänge, während Jakobs diese durchaus eindrucksvoll intoniert. Das Aufbegehren von Brunos Schwester Ingrid (Marie Lumpp) gegen das väterliche Verbot sich mit britischen Soldaten zu treffen („Ich will doch nur leben“), zeigt zum ersten Mal deutlich die Handschrift von Komponist Martin Lingnau. Auffällig ist hierbei, dass bei nahezu allen Songs Keyboards und Schlagzeug im Vordergrund stehen. Große, voluminöse Melodien sucht man vergebens. Nichtsdestoweniger überzeugt die Live-Band unter der Leitung von Christoph Bönecker.
Szenenapplaus bekommt das Bühnenbild von Jens Kilian für die Verwandlung der Reisekoffer in einen Bus, von dem aus dann ein fröhliches „Hoch auf dem gelben Wagen“ ins Publikum geschmettert wird. Die Zuschauer trauen sich zwar nicht, genauso gut gelaunt einzustimmen, aber ein zögerlich einsetzendes Mitklatschen zeigt, dass die Busfahrt ihr Ziel nicht verfehlt.
Das Finale des 1. Akts wirft einmal mehr inhaltliche Fragezeichen auf: Im Hotel in der Schweiz lässt sich Sepp Herberger von einer Putzfrau sein berühmtestes Zitat („Der Ball ist rund und ein Spiel dauert 90 Minuten.“) in den Mund legen und die komplette Mannschaft darf sich dann zudem belehren lassen, „nicht so deutsch“ zu sein. Was komisch gemeint ist, kommt doch etwas hölzern über die Rampe und wirkt spätestens beim Tanz der Fußball-Elf in blauen Glitzersakkos deplatziert.

In der zweiten Hälfte offenbart sich die fehlende Dramaturgie noch deutlicher. Von der Vielzahl paralleler Handlungsstränge wird keiner gewissenhaft aufgenommen. Die Charaktere bleiben blass und es wird nur an der Oberfläche gekratzt. Die Gratwanderung, die fragile Beziehung zwischen Vater und Sohn mit stimmungsvollen, bühnenfüllenden Musical-Tanznummern zu verbinden, gelingt kaum. Die Intimität und Verletzlichkeit der Familie Lubanski verflüchtigt sich in dem 2.000 Plätze fassenden Theater nur allzu leicht. Das mag auch eine Erklärung dafür sein, dass die hinreißende Vera Bolten als Mutter Christa kaum in Erscheinung tritt. Auch Matthias und seine Freunde können das Publikum nicht erreichen, obwohl dies bei Kindern auf der Musicalbühne im allgemeinen schon fast ein Selbstläufer ist. Hingegen erscheinen die Comedy-Szenen mit dem Eheaar Ackermann oder die Tanzszenen der Fußballer zwar musicalkonform, jedoch passen sie nicht zum Rest der Handlung.

Bekannte Zitate verpuffen ebenso wie der durch TV und Radio bereits im Vorfeld bekannte Titelsong „Wunder gescheh‘n“ (gesungen von Vera Bolten als Mutter Christa). Man gewinnt mehr und mehr den Eindruck, dass die Übertragung des Films auf die Musicalbühne für Gil Mehmert keine leichte Aufgabe war und er sich zwischen Revue, Comedy, klassischem Theater und Akrobatik nicht entscheiden konnte. Der gewählte Mittelweg wird leider keiner Sparte und keinem Charakter gerecht.

Rundum gelungene Szenen wie „An Wunder glaubt doch jeder“ mit einem überzeugenden Tetje Mierendorf als Pfarrer oder „Kannst Du denn wirklich nur an Fußball denken?“, in der Anette (Hübert) die Aufmerksamkeit ihres Mannes mit den Mitteln einer Frau auf sich zu ziehen versucht, wirken ohne Konzept aneinandergereiht.

In Richtung Finale verändert sich die Szenerie: Waren vorher die Hintergrundprojektionen angelehnt an die Realität (Hausdächer, Flussläufe, Gebirge) , sind es nun Kreidezeichnungen, die die an Richard und Matthias auf dem Weg nach Bern vorbeiziehende Landschaft darstellen. Der Grund wird schnell klar, wenn man sieht, wie das entscheidende Spiel der Fußball-WM auf der Bühne umgesetzt wird: Ungarische und deutsche Spieler laufen dem projizierten Ball auf der vertikalen Leinwand hinterher. Dabei werden die jeweiligen Positionen und Bewegungen wie auf einer Taktik-Tafel eingezeichnet und mit dem original Radiokommentar von Herbert Zimmermann unterlegt. Akrobatisch eine großartige Leistung der Darsteller! Zudem allein schon durch die deutschlandweit bekannten Worte Zimmermanns sehr berührend.
Nach dem Sieg wechselt das Bühnenbild wieder zu realitätsnahen Projektionen und die Zuschauer erleben wie der kleine Matthias seinem Idol Helmut Rahn (Dominik Hees) bei der Abfahrt aus der Schweiz zujubelt.
Der Schriftzug „Weltmeister 1954“ hebt sich und unterstützt von ein wenig Pyrotechnik fallen sich alle jubelnd in die Arme.
Auch wenn klar ist, worauf es in dieser Show hinausläuft, fällt die Vereinigung von Vater und Sohn in diesem Finale fast gar nicht ins Gewicht. Der Fußballsieg steht eindeutig im Mittelpunkt des Geschehens.
Was bleibt nach zwei Stunden und zwanzig Minuten „Das Wunder von Bern“? Abwechslungsreiche Melodien, aber leider zu viele Reprisen; einige gut durchdachte Szenen, aber leider kein zusammenhängendes Ganzes; sehr gute Schauspieler und Sänger, die ihr Können in dieser Show aber leider nicht unter Beweis stellen können.
Dem Musical gelingt es bedauerlicherweise nicht, die Intensität des Films zu transportieren. Das liegt sicherlich auch daran, dass es zu viele Charaktere sind, die ihre eigene kleine Geschichte erzählen und dadurch die Konzentration auf die eigentliche Handlung – die Wiedervereinigung von Vater und Sohn – verloren geht. Ein anderer Grund mag sein, dass das Theater für diesen so persönlichen Stoff schlichtweg zu groß ist und sich die filigranen schauspielerischen Einsätze in den letzten Reihen gar nicht erst feststellen lassen, da man die Mimik der Darsteller nicht einmal erahnen kann.
Im Gegensatz zu „Rocky“, bei dem die charmant umgesetzte, bekannte Geschichte sich auf eine zentrale Figur konzentriert und gemeinsam mit der außergewöhnlichen Bühnentechnik dieses Stück zu einem gelungenen Ensuite-Musical macht, verliert sich „Das Wunder von Bern“ in der Vielzahl von Charakteren und schafft es trotz ansprechender, wenn auch nicht neuartiger Bühnentechnik, nicht, die Bedeutung des Weltfußballereignisses auf die damit verbundenen Veränderungen im Leben der Familie Lubanski herunterzubrechen.

Michaela Flint

Theater: Stage Theater an der Elbe, Hamburg
Premiere: 23. November 2014
Darsteller: Detlef Leistenschneider, Vera Bolten, Elisabeth Hübert, Dominik Hees, Tetje Mierendorf
Regie & Buch / Musik: Gil Mehmert / Martin Lingnau
Fotos: Stage Entertainment