Film und Musical enden beide im doppelten Happy End: Deutschland wird Fußball-Überraschungsweltmeister und Richard und Matthias finden als Vater und Sohn zueinander.
Doch im Musiktheater geht es ja nicht um das „Draußen“, sondern um das Geschehen auf der Bühne. Und das beginnt sehr beklemmend: Zur Ouvertüre werden auf der bühnenfüllenden Leinwand Bilder aus dem Nachkriegs-Deutschland gezeigt und der Zuschauer wird Luftlinie in die graue Tristesse des Ruhrpotts geflogen. Nach einem sehr getragenen Auftakt, in dem Matthias‘ (Riccardo) Fußballliebe deutlich wird, folgt die im Laufe des Abends mehrfach wiederholte Schunkelnummer „Dat wird doch nie wat“. Die Ankunft Richards (Detlef Leistenschneider) am Essener Hauptbahnhof gelingt dank der guten Projektionen (Ad de Haan, Timm Ringewaldt) sehr plastisch. Die Szene, in der die frisch gebackene Anette Ackermann (Elisabeth Hübert) ihrem Gatten, Sportjournalist Paul (Andreas Bongard), die Hochzeitsreise schmackhaft machen möchte, wird auch dank der im Hintergrund schnell wechselnden Motive – von Frauenkirche, Schiefem Turm von Pisa, Eiffelturm bis hin zu Big Ben – zu einer in sich stimmigen Comedy-Nummer.
Gleiches gilt für den parallelen Handlungsstrang, der die Rebellion von Richards Sohn Bruno (David Jakobs) gegen die Nationalsozialisten aufzeigen soll: Mit Rock‘n‘Roll setzt sich Bruno eindrucksvoll für den Kommunismus ein. Wie das jedoch zusammenpasst – westliche Rockmusik und östliche Politansichten -, bleibt ungeklärt.
Szenenapplaus bekommt das Bühnenbild von Jens Kilian für die Verwandlung der Reisekoffer in einen Bus, von dem aus dann ein fröhliches „Hoch auf dem gelben Wagen“ ins Publikum geschmettert wird. Die Zuschauer trauen sich zwar nicht, genauso gut gelaunt einzustimmen, aber ein zögerlich einsetzendes Mitklatschen zeigt, dass die Busfahrt ihr Ziel nicht verfehlt.
In der zweiten Hälfte offenbart sich die fehlende Dramaturgie noch deutlicher. Von der Vielzahl paralleler Handlungsstränge wird keiner gewissenhaft aufgenommen. Die Charaktere bleiben blass und es wird nur an der Oberfläche gekratzt. Die Gratwanderung, die fragile Beziehung zwischen Vater und Sohn mit stimmungsvollen, bühnenfüllenden Musical-Tanznummern zu verbinden, gelingt kaum. Die Intimität und Verletzlichkeit der Familie Lubanski verflüchtigt sich in dem 2.000 Plätze fassenden Theater nur allzu leicht. Das mag auch eine Erklärung dafür sein, dass die hinreißende Vera Bolten als Mutter Christa kaum in Erscheinung tritt. Auch Matthias und seine Freunde können das Publikum nicht erreichen, obwohl dies bei Kindern auf der Musicalbühne im allgemeinen schon fast ein Selbstläufer ist. Hingegen erscheinen die Comedy-Szenen mit dem Eheaar Ackermann oder die Tanzszenen der Fußballer zwar musicalkonform, jedoch passen sie nicht zum Rest der Handlung.
Rundum gelungene Szenen wie „An Wunder glaubt doch jeder“ mit einem überzeugenden Tetje Mierendorf als Pfarrer oder „Kannst Du denn wirklich nur an Fußball denken?“, in der Anette (Hübert) die Aufmerksamkeit ihres Mannes mit den Mitteln einer Frau auf sich zu ziehen versucht, wirken ohne Konzept aneinandergereiht.
Auch wenn klar ist, worauf es in dieser Show hinausläuft, fällt die Vereinigung von Vater und Sohn in diesem Finale fast gar nicht ins Gewicht. Der Fußballsieg steht eindeutig im Mittelpunkt des Geschehens.
Im Gegensatz zu „Rocky“, bei dem die charmant umgesetzte, bekannte Geschichte sich auf eine zentrale Figur konzentriert und gemeinsam mit der außergewöhnlichen Bühnentechnik dieses Stück zu einem gelungenen Ensuite-Musical macht, verliert sich „Das Wunder von Bern“ in der Vielzahl von Charakteren und schafft es trotz ansprechender, wenn auch nicht neuartiger Bühnentechnik, nicht, die Bedeutung des Weltfußballereignisses auf die damit verbundenen Veränderungen im Leben der Familie Lubanski herunterzubrechen.
Michaela Flint
Theater: Stage Theater an der Elbe, Hamburg
Premiere: 23. November 2014
Darsteller: Detlef Leistenschneider, Vera Bolten, Elisabeth Hübert, Dominik Hees, Tetje Mierendorf
Regie & Buch / Musik: Gil Mehmert / Martin Lingnau
Fotos: Stage Entertainment