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Eine ausgewogene Mischung

„Miss Saigon“ hat mit seinen inzwischen 33 Jahren nichts an Strahlkraft einbüst. Noch immer trifft die Geschichte von Kim und Chris ins Herz. Die Auswirkungen des Vietnamkrieges auf die Menschen vor Ort sowie die Soldaten, die traumatisiert in die USA zurückgekehrt sind, macht mehr als nur betroffen.

Nach den erfolgreichen Wiederaufnahmen im West End 2014 und am Broadway 2017 durfte sich auch Wien auf die Premiere dieses berührenden Klassikers freuen. Pandemie-bedingt fand die Premiere im Januar 2022 zwar deutlich später statt als geplant, doch die fünf Monate Spielzeit im zuvor komplett renovierten Raimund Theater sorgten für ein volles Haus!

Jean-Pierre Van Der Spuy hat das Musical von Claude-Michel Schönberg und Alain Boublil in Wien inszeniert. Einiges erinnert an Oper (bspw. wenn der Geist vion Thuy Kim erscheint), anderes an klassisches Broadway / West End Musical (u. a. „American Dream“). Insgesamt sind viele Szenen jedoch recht langatmig, was dem Stück nicht wirklich zugute kommt. Dadurch wirkt es noch düsterner und getragener als es ohnehin aufgrund der tragischen Handlung schon ist.

Erschwerend kommt hinzu, dass es leider bei einigen Darstellern an der deutschen Aussprache hapert. Christian Rey Marbella ist eine exzellente Wahl für den Engineer, aber er hat mit den deutschen Texten und deren Geschwindigkeit doch häufig arg zu kämpfen. Doch es gelingt ihm ganz großartig das Publikum mit typisch wienerischen Ausdrücken für sich zu gewinnen. Seine schelmische Art trägt ebenfalls dazu bei, dass man mit dem ansonsten sehr egoistischen Zuhälter auch etwas Mitleid empfindet. In der englischen Originalsprache ist er ganz sicher rundum überzeugend!

Aynrand Ferrer stand mit Christian Rey Marbella bereits während der UK & Ireland Tour von „Miss Saigon“ auf der Bühne. Ihr selbstbewusster Ausdruck ist ein beeindruckender Gegenpol zu der schüchternen Kim zu Beginn des Stücks. Selten hat man eine so starke Kim gesehen. Auch gesanglich weiß die junge Philippina absolut zu überzeugen.
Eine weitere Debütantin auf Wiener Bühnen ist Annemarie Lauretta, die als Gigi ein deutliuches Statement setzt. Stimmlich lässt sie aufhorchen und stellt auch schauspielerisch und täzerisch ihre Kollegen in den Schatten. Ebenfalls zum ersten Mal in Wien zu sehen, ist James Park als ungewöhnlich beeindruckender Thuy. Man spürt (und hört) seine klassische Opernausbildung. Er hat eine sehr einschüchternde Präsenz, was dieser ansonsten meist unscheinbaren Figur sehr gut zu Gesicht steht.
Gino Emnes ist für das Wiener Publikum ein alter Bekannter. Als John kommt ihm die Rolle des väterlichen Freundes und im zweiten Akt des geläuterten Aufklärers zu, der versucht, wenigstens ansatzweise wieder gutzumachen, was der Einmarsch der Amerikaner in Vietnam zerstört hat. „Bui Doi“ ist der erwartete Showstopper. Der Chor ist grandios, das Orchester geht (nicht nur in diesem Song) unter die Haut. Emnes! nachdrückliches Spiel und die Art wie er die Worte „Bui Doi“ betont, machen diesen mahnenden Song noch intensiver.
Gleichsam nachdrücklich sind Gesang und Spiel von Abla Alaoui, die Chris‘ liebende Ehefrau Ellen mit viel Fingerspitzengefühl gibt und gleichzeitig versucht, die Gefühle von Kim nicht zu verletzen. Beides gelingt ihr hervorragend.

Seit einigen Jahren gilt Oedo Kuipers in Wien als feste Größe. So überrascht es nicht, dass er als GI Chris eine der Hauptrollen in „Miss Saigon“ übernehmen darf. Er spielt gefühlvoll, wo es erforderlich ist, geht aber auch stark aus sich heraus, wenn es die Umstände erfordern. Auch gesanglich passt er sehr gut auf das Rollenprofil.

Neben den sehr guten Darstellerinnen und Darstellern lebt „Miss Saigon“ auch von der ein oder anderen technischen Finesse. Dazu zählt natürlich der Cadillac, der während des „American Dream“ des Engineers auf die Bühne gefahren kommt. Doch in erster Linie ist es immer wieder spannend zu sehen, wie der „Huey“, der im Vietnamkrieg eingesetzte Helikopter Bell UH-1 Iroquois, dargestellt wird. In der Wiener Inszenierung kann dies vollumfänglich als gelungen bezeichnet werden. Zunächst nur eine Projektion, öffnet sich kurz darauf ein Vorhang und gibt den Blick frei auf einen „schwebenden“ Huey mit drehenden Rotoren (sowohl oben als auch am Heck), in den die US-Soldaten reinklettern. Diese Szene zeigt die Arbeit von Produktionsdesign (Totie Driver und Matt Kinley), Lichtdesign (Bruno Poet), Sounddesign (Mick Potter), Projektionen (Luke Halls) und Orchestrierung (William David Brohn) in Reinkultur. Chapeau!

Die Wiener Inszenierung von „Miss Saigon“ hat definitiv ihre starken Momente, doch auch einige Längen. Hundertprozentig aus einem Guss wirkt die Produktion nicht, so sie reißt das Publikum zu stehenden Ovationen hin. Was will man mehr?!

Michaela Flint

Theater: Raimund Theater, Wien
Besuchte Vorstellung: 11. Juni 2022
Darsteller: Aynrand Ferrer, Christian Rey Marbella, Annemarie Lauretta, James Park, Gino Emnes, Abla Alaoui, Oedo Kuipers
Regie / Musik: Jean-Pierre Van Der Spuy / Claude-Michel Schönberg
Fotos: Johan Persson