„Miss Saigon“ hat mit seinen inzwischen 33 Jahren nichts an Strahlkraft einbüst. Noch immer trifft die Geschichte von Kim und Chris ins Herz. Die Auswirkungen des Vietnamkrieges auf die Menschen vor Ort sowie die Soldaten, die traumatisiert in die USA zurückgekehrt sind, macht mehr als nur betroffen.
Nach den erfolgreichen Wiederaufnahmen im West End 2014 und am Broadway 2017 durfte sich auch Wien auf die Premiere dieses berührenden Klassikers freuen. Pandemie-bedingt fand die Premiere im Januar 2022 zwar deutlich später statt als geplant, doch die fünf Monate Spielzeit im zuvor komplett renovierten Raimund Theater sorgten für ein volles Haus!
Erschwerend kommt hinzu, dass es leider bei einigen Darstellern an der deutschen Aussprache hapert. Christian Rey Marbella ist eine exzellente Wahl für den Engineer, aber er hat mit den deutschen Texten und deren Geschwindigkeit doch häufig arg zu kämpfen. Doch es gelingt ihm ganz großartig das Publikum mit typisch wienerischen Ausdrücken für sich zu gewinnen. Seine schelmische Art trägt ebenfalls dazu bei, dass man mit dem ansonsten sehr egoistischen Zuhälter auch etwas Mitleid empfindet. In der englischen Originalsprache ist er ganz sicher rundum überzeugend!
Seit einigen Jahren gilt Oedo Kuipers in Wien als feste Größe. So überrascht es nicht, dass er als GI Chris eine der Hauptrollen in „Miss Saigon“ übernehmen darf. Er spielt gefühlvoll, wo es erforderlich ist, geht aber auch stark aus sich heraus, wenn es die Umstände erfordern. Auch gesanglich passt er sehr gut auf das Rollenprofil.
Neben den sehr guten Darstellerinnen und Darstellern lebt „Miss Saigon“ auch von der ein oder anderen technischen Finesse. Dazu zählt natürlich der Cadillac, der während des „American Dream“ des Engineers auf die Bühne gefahren kommt. Doch in erster Linie ist es immer wieder spannend zu sehen, wie der „Huey“, der im Vietnamkrieg eingesetzte Helikopter Bell UH-1 Iroquois, dargestellt wird. In der Wiener Inszenierung kann dies vollumfänglich als gelungen bezeichnet werden. Zunächst nur eine Projektion, öffnet sich kurz darauf ein Vorhang und gibt den Blick frei auf einen „schwebenden“ Huey mit drehenden Rotoren (sowohl oben als auch am Heck), in den die US-Soldaten reinklettern. Diese Szene zeigt die Arbeit von Produktionsdesign (Totie Driver und Matt Kinley), Lichtdesign (Bruno Poet), Sounddesign (Mick Potter), Projektionen (Luke Halls) und Orchestrierung (William David Brohn) in Reinkultur. Chapeau!
Die Wiener Inszenierung von „Miss Saigon“ hat definitiv ihre starken Momente, doch auch einige Längen. Hundertprozentig aus einem Guss wirkt die Produktion nicht, so sie reißt das Publikum zu stehenden Ovationen hin. Was will man mehr?!
Michaela Flint
Theater: Raimund Theater, Wien
Besuchte Vorstellung: 11. Juni 2022
Darsteller: Aynrand Ferrer, Christian Rey Marbella, Annemarie Lauretta, James Park, Gino Emnes, Abla Alaoui, Oedo Kuipers
Regie / Musik: Jean-Pierre Van Der Spuy / Claude-Michel Schönberg
Fotos: Johan Persson