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Ein seltsamer Fall

Seltsam war er wirklich, der Fall von Deacon William Brodie, auf dessen Leben Robert Louis Stevenson seinen Roman von Dr. Jekyll und Mr. Hyde aufbaute. Und nicht minder seltsam sind die verschiedenen Bühnenadaptionen dieses Themas. Denkt man nur an die Broadway-Fassung mit David Hasselhoff, die sich grundlegend von der Version in Bremen und Köln unterscheidet. Ganz zu schweigen von der letztjährigen Inszenierung in Lüneburg, die das Stück in einem vollkommen neuen Gewand kleidete. Und nun also Lübeck…

Die Grundstimmung auf der Bühne war dem viktorianischen Zeitalter entsprechend eher dunkel. Der Einsatz einer Videokamera, mit der Dr. Jekyll sich und sein Experiment filmt, passt dann aber weder zu den viktorianischen Kulissen und Kostümen noch zeugt es von großer Kreativität seitens der Regie. Denn die Szenen mit der Videokamera gehörten zu den neuartigen Highlights der Lüneburger „Jekyll & Hyde“-Fassung.

Auch abseits dieser kleineren Missgriffe muss man die diesjährige Musicalpremiere in Lübeck leider dem Mittelmaß zuordnen. Waren Stücke wie „My Fair Lady“, „La Cage aux Folles“, „Les Misérables“ und „Evita“ durchweg überzeugend – weil Regie, Bühnengewerke und Musik perfekt zusammenpassten – so scheint dies bei „Jekyll & Hyde“ nicht geglückt. Die Regie von Pascale Chevroton scheint an vielen Stellen unausgegoren. So verpufft die Konfrontation gänzlich in der Belanglosigkeit, obwohl der freischwebende Labortisch hierzu den perfekten Rahmen abgegeben hätte, und auch der Einsatz der Hubbühne wird mehrfach überstrapaziert und führt zu langen Umbauphasen, die den Fluss der Handlung stören. Warum sich Vasiliki Roussi als Lucy von der Bühnendecke als Tuch-Seil-Artistin abseilt, ist wohl künstlerischer Freiheit zuzurechnen. Gleiches gilt für die Opfer von Mr. Hyde, die nach ihrem Tod angeschnallt werden und dann hoch über der Szenerie schwebend einige Minuten verharren. Und warum Lisa Carew, Dr. Jekylls Verlobte, in dieser Inszenierung Emma heißt, wer weiß das schon? Leichter zu erklären ist da, dass die Rolle von John Utterson, Dr. Jekylls Freund, vergrößert wurde, um Lokalmatador Steffen Kubach mehr Entfaltungsmöglichkeiten zu geben. Aber auch hier wurde die Änderung nicht konsequent verfolgt, sondern nur angedeutet.

Musikalisch fehlt es dem Orchester an Schwung. Gerade bei diesem Stück erwartet man viel Intensität und Kraft in den Melodien, doch leider werden Ludwig Pflanz und sein Orchester diesem Anspruch nicht gerecht. Die miserable Tontechnik am Premierenabend tat ein Übriges, um den Genuss des Musicals zu beeinträchtigen. Auch das Licht sorgt für viele Fragezeichen: Warum steht der Hauptdarsteller mehrfach singend im Dunkeln, während der Verfolger auf andere Darsteller gerichtet ist?

Unter dem unausgewogenen Ton litten auch die Darsteller sehr. Mit Ausnahme von Thomas Christ in der Titelrolle war kaum einer wirklich zu verstehen. Christ, der in den letzten beiden Jahren bereits als Ché in „Evita“ und Jean Valjean in „Les Misérables“ die Kritiker für sich begeisterte, legt sich für eine der größten und anspruchsvollsten männlichen Rollen im Musicalfach ins Zeug. Überzeugend und nicht überzogen stellt die Wandlung von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde dar. Man nimmt ihm die Forschungsbesessenheit ab. Stimmlich kann er der Rolle gerecht werden, obwohl hier der Unterschied zwischen Dr. Jekyll und Mr. Hyde noch etwas trennschärfer herausgearbeitet werden könnten. Das würde dem Publikum den Unterschied, der optisch nicht übermäßig deutlich wird, noch besser vor Augen führen. Die sichtbare Wandlung besteht in erster Linie aus einem verwuschelten Haarschopf und einem dunklen Mantel, der durch Wenden des Laborkittels von Dr. Jekyll entsteht. So manches Mal hat Christ mit diesem sehr pfiffigen, aber nur wenig praktikablen Kostümwechsel zu kämpfen.

Ausnahmslos alle anderen Darsteller sind austauschbar. Sonja Freitag gibt ihrer Emma Carew nichts erinnerungswürdiges, und auch Vasiliki Roussi bleibt als Lucy mehr für ihre akrobatischen Einlagen im Gedächtnis als für ihr Spiel und ihren Gesang. Gesanglich weist sie sehr große Schwächen auf: Zwar hat sie eine wunderschöne Stimmt, doch es fehlt ihr an Volumen und Facettenreichtum, um der Rolle der Prostituierten genügend Druck zu verleihen.

Da überzeugt Masha Karrell als Nellie schon mehr. Sie gibt eine verspielt-überdrehte Bordellchefin und geizt nicht mit ihren Reizen. Stimmlich hört man ihr das schwere Leben und die Verruchtheit deutlich mehr an als Roussi.

Über Steffen Kubach alias John Utterson kann man kaum ein schlechtes Wort verliehen. Gesanglich passt er wunderbar auf die Rolle, auch sein Schauspiel ist überzeugend – und doch kämpft er gegen Windmühlen, da die Rolle im Vergleich zu seinen sonstigen Parts geradezu nicht existent ist.

Zum ersten Mal seit vielen Jahren habe ich das Theater Lübeck mit sehr gemischten Gefühlen verlassen. Wirklich überzeugt hat diese Produktion von „Jekyll & Hyde“ mich leider nicht.

Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical

Theater: Theater Lübeck

Premiere: 19. September 2009
Darsteller: Thomas Christ
Musik / Regie:  Frank Wildhorn / Pascale Chevroton
Fotos: Thorsten Wulff
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