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Bei Weitem keine leichte Kost

Nach seiner Broadway-Premiere im Dezember 2016 hat „Dear Evan Hansen“ die Musicalwelt im Sturm erobert. Sechs Tonys im Folgejahr, u. a. für das „Beste Musical“ und den „Besten Hauptdarsteller“ (Ben Platt) sprechen für sich. Benj Pasek und Justin Paul (u. a. „Dogfight“, „The Greatest Showman”) haben in diesem Stück Erlebnisse aus der eigenen Schulzeit verarbeitet.

Im Grunde geht es um den Teenager Evan Hansen, der unter Angststörungen leidet und in der Schule als Außenseiter gilt. Auch Connor Murphy ist ein Außenseiter, aber eher weil er unangepasst ist und manchmal auch aggressiv agiert. Die Geschichten der beiden werden auf immer miteinander verbunden als Connor einen Brief findet, den Evan – auf Anraten seines Psychotherapeuten – an sich selbst geschrieben hat.

Dieser Brief bringt das sprichwörtliche Fass bei Connor zum Überlaufen. Er ist ohnehin sehr labil und kann mit der im Brief angedeuteten Liebeserklärung an seine kleine Schwester Zoe – die er um jeden Preis beschützen möchte – nicht umgehen. Er verschwindet und wird nach drei Tagen tot aufgefunden.

Connors Eltern halten dieses Schreiben für dessen Abschiedsbrief und legen alle Hoffnungen darin, dass ihr Sohn doch nicht so unbeliebt war, wie alle behaupten, sondern einen richtigen Freund hatte, dem er sogar Briefe schrieb.

Evan ist durch so viel Aufmerksamkeit eingeschüchtert. Anstatt das Missverständnis aufzuklären, lässt er sich von Connors Mutter immer weiter in diese gar nicht existierende Freundschaft hineinquatschen. Mit seinem Kumpel Jared programmiert er sogar eine E-Mail-Korrespondenz zwischen den beiden. Er möchte Connors Mutter nicht weh tun, sieht seine Chance, Connors Schwester näherzukommen und verpasst den Zeitpunkt, aus diesem Lügengebilde noch rechtzeitig auszusteigen.

Diese von allen offenbar unbemerkte Freundschaft zieht sehr große Kreise: Es wird eine Gedenkveranstaltung in der Schule abgehalten, das Obstbaumwäldchen, in dem die beiden angeblich so gern waren, soll mittels Fundraising in einen Connor Murphy Gedenkwald umgewidmet werden, usw.

Das Ganze kippt erst, als der vermeintliche Abschiedsbrief, in dem es auch darum geht, wie sehr sich der Verfasser von seinen Eltern im Stich gelassen fühlt, im Internet veröffentlicht wird. Connors Familie ist einem unsäglichen Shitstorm ausgesetzt und wird von der viel zitierten Community für den Tod ihres Sohnes verantwortlich gemacht. Diese Situation wird für Evan unerträglich. Dann kommt auch Evans Mutter dahinter, dass ihr Sohn sie bezüglich Connor angelogen hat und stellt bei einem Treffen mit Connors Eltern klar, dass nicht alles, was Evan erzählt hat, stimmt. In der Folge klärt Evan die Verkettung aus Missverständnissen und Unwahrheiten auf und wird wieder zum Einsiedler, der er vorher war, fühlt sich aber noch viel einsamer und schlechter als je zuvor.

Ein Jahr später treffen sich Evan und Zoe im Obstbaumwäldchen. Ihre Zuneigung ist nach wie vor vorhanden. Und so endet das Stück auf eine seltsame Weise recht versöhnlich.

Auf die Handlung (wikipedia.com) kann man sich einlassen oder auch nicht. Man kann durchaus Mitleid mit Evan haben, doch manchmal überwiegt auch das blanke Unverständnis, dass er sein Lügenschloss gegen jedes bessere Wissen aufrechterhält.

In jedem Fall liefert dieses Stück viel Gesprächsstoff…

 

Für die filmische Fassung wurde eine sehr gute Besetzung gewählt, die einerseits der breiten Masse bekannt ist (Amy Adams als Cynthia Murphy, Julianne Moore als Heidi Hansen), aber auch viele Nachwuchstalente, die sehr überzeugen (insbesondere Amandla Stenberg als Alana und Nik Dodani als Jared).

Bereits im Vorfeld wurde kritisch diskutiert, dass Ben Platt, der Evan Hansen bei der Broadway-Premiere 2016 gespielt hat, fünf Jahre später, mit inzwischen 28 Jahren, auch auf der Leinwand den Teenager Evan gibt. Doch ehrlich gesagt, kann man sich kaum eine bessere Besetzung für diese so anspruchsvolle Rolle vorstellen: Evans verhuschte Blicke, sein gebeugter Gang, die ängstlich-schüchterne Kopfhaltung auf der einen Seite und das strahlende Lächeln, schelmische Glitzern in den Augen, das sichtbare Wohlfühlen in der Familie Murphy auf der anderen – Ben Platt stellt dies unbestreitbar glaubwürdig dar. Auch das Hin- und Hergerissensein zwischen seiner Krankheit, seinen Gefühlen, seinen eigenen Wertevorstellungen, den Missverständnissen und der eigenen Feigheit  – diese Konflikte drückt er sehr authentisch aus.

Dazu kommt noch sein perfekt auf Paseks / Pauls Kompositionen abgestimmter Gesang: Seine warme, beinahe zerbrechliche Stimme und seine vokale Energie beim Connors Gedenkveranstaltung („You will be found“) jagen einem Gänsehautschauer über den Rücken und Tränen in die Augen.

Die filmische Umsetzung des Musicals kann als durchaus gelungen bezeichnet werden. „Dear Evan Hansen“ hat Spielfilmcharakter, ist kurzweilig und man hetzt nicht von Song zu Song. Die meisten Songs fügen sich sehr gut in die Handlungen und Dialoge ein.

Amy Adams ist eine rührend besorgte, liebevolle Mutter, die sich an jedes noch so kleine Haar klammert, nur um endlich glauben zu können, dass ihr Sohn Connor kein Scheusal war. Adams spielt nicht nur sehr einfühlsam, sondern singt auch sehr gut. Im „Requiem“ vereinigen sich diese beiden Eigenschaften zur Perfektion.

Dass Cynthia Murphy aber in ihrer eigenen Trauer manchmal ihren Mann, Connors Stiefvater Larry (stark gespielt von Danny Pino) und ihre Tochter Zoe (Kaitlyn Dever) vernachlässigt, führt zu intensiven Auseinandersetzungen innerhalb der trauernden Familie.

Heidi Hansen hingegen, Evans alleinerziehende Mutter, versucht alles, um ihrem Sohn ein normales Leben zu ermöglichen. Sie nimmt Extraschichten im Krankenhaus an, bezahlt einen Psychiater, aber entfernt sich dabei immer mehr von ihrem Sohn, der eigentlich nur eines braucht: ihre Nähe und ihr Vertrauen. Julianne Moore spielt die erschöpfte Heidi in allen Facetten berührend. „So big / so small“, der Song in dem Heidi mit Evan über dessen Lügen, die gemeinsame Vergangenheit und die Beziehung zueinander spricht, geht unter die Haut – nicht zuletzt auch deshalb, weil Moore hier absolut den richtigen Ton trifft (im wahrsten Wortsinn).

In diesem Zusammenhang erfährt das Publikum auch, dass Evans Sturz vom Baum während der Sommerferien bei Weitem kein Unfall war, sondern dass er einfach losgelassen hat. Er war nicht mit Connor zusammen, wie er alle hat Glauben machen wollen („For Forever“), sondern es war, wie Connor (gespielt von Colton Ryan) schon in einem imaginären Zweigespräch angedeutet hatte, ein Selbstmordversuch.

Alana, Evans nur scheinbar selbstbewusste und proaktive Schulkameradin, ist dank Amandla Stenbergs sehr authentischem Spiel eine Erscheinung. Keiner würde glauben, dass auch dieses Mädchen unter Depressionen leidet. „The Anonymous Ones“ ist einer der stärksten Songs der Show. Alana gesteht Evan, dass sie seine Probleme nur zu gut kennt und zeigt Gemeinsamkeiten auf. Schade, dass Stenberg gesanglich nicht ganz an ihr schauspielerisches Können heranreicht.

Jared, der Sohn einer befreundeten Familie der Hansens, der sich nur aus dieser familiären Verpflichtung heraus mit Evan abgibt, ist eine große Hilfe als seine Programmierkenntnisse gefragt sind. „Sincerely, Me“ ist ein lustiger Song, mit dem Evans Lügenschloss Gestalt annimmt, denn Jared und er erfinden E-Mails, die Connor und Evan sich angeblich geschrieben haben. Dass Jared hier immer wieder in etwas platte Ideen abdriftet, die Evan dann in ein jugendfreies Gewand kleidet, macht den Song nur um so witziger. Die Szene ist auf der Leinwand sehr amüsant umgesetzt. Dodani und Platt hatten sichtlich ihren Spaß.

Zoe und Evan kommen sich im Laufe der Wochen nach Connors Tod näher. Alles scheint perfekt. „Only Us“ wirkt dann aber mit seinen Klischee-Bildern vom Prom und dem Freizeitpark doch irgendwie sehr abgefahren. Dever und Platt geben ein schönes Paar ab und das Ende des Films deutet an, dass es trotz aller Lügen vielleicht doch eine gemeinsame Zukunft für die beiden gibt.

Damit sind wir auch schon bei dem größten Unterschied von Bühnenfassung und Film, denn im Gegensatz zur Bühne setzt man sich mit dem Charakter Evan Hansen ganz anders auseinander. Es löst sich am Ende nicht alles in Wohlgefallen auf. Evan muss viel tun, damit ihm – auch von den Zuschauern – verziehen werden kann. Doch er gibt sich Mühe, liest die zehn Lieblingsbücher von Connor, um den Jungen besser zu verstehen, jobbt, um sich fürs College etwas dazuzuverdienen und seine Mutter zu entlasten und versucht, die Beziehung zu den Murphys, die er so unsagbar tief verletzt hat, langsam wieder aufzubauen. Das Treffen von Zoe und ihm im „Connor Murphy Memorial Orchard“ schürt die Hoffnung, dass dies klappen könnte.

Auch musikalisch haben Pasek & Paul das Portfolio erweitert und mit „The Anonymous Ones“ und „A little closer“ zwei wunderbare neue Songs für die Filmfassung geschrieben. Doch auch die bekannten Showstopper wie „For Forever“ und insbesondere „You will be found“ verfehlen ihre Wirkung nicht.

„Dear Evan Hansen“ ist gut gemachtes Musiktheater mit einer zeitgemäßen Thematik, über die man lange diskutieren kann. Der Film ist ein adäquater Ersatz für alle, die die Show bisher nicht im Theater gucken konnten – idealerweise natürlich in der Originalfassung.

Michaela Flint

Regie:Stephen Chbosky
Darsteller: Ben Platt, Amay Adams, Julianne Moore, Kaitlyn Dever, Colton Ryan, Amandla Stenberg, Nik Dodani, Danny Pino
Musik: Benj Pasek, Justin Paul
Verleih / Fotos: Universal Pictures Germany