home 2024, Neu Aufwühlend, aber in sich stimmig – so geht modernes Musiktheater

Aufwühlend, aber in sich stimmig – so geht modernes Musiktheater

„Alice by Heart“ ist eines der gelungensten Stücke des Jungen Musicals Lüneburg in den letzten Jahren. Worum es geht? Dazu schauen wir zunächst einmal ins Programm des Theaters:

„1941, in den Trümmern der deutschen Angriffe auf London während des Zweiten Weltkriegs wird Alice Spencers bewegtes, aufstrebendes Teenagerleben auf den Kopf gestellt. Sie und ihr bester Freund Alfred sind gezwungen, in einer U-Bahn-Station Schutz zu suchen. Alice liest dort in ihrem Lieblingsbuch „Abenteuer im Wunderland“ von Lewis Carroll und versucht so, ihre Erfahrungen von Trauer, Verlust, Angst und Sehnsüchten zu verarbeiten. Als der an Tuberkulose erkrankte Alfred unter Quarantäne gestellt wird, ermutigt Alice ihn, mit ihr in ihr geliebtes Buch zu fliehen und in eben dieses Wunderland zu reisen. Obwohl ihr das Buch entrissen wird, machen sich die beiden auf den Weg, denn Alice kennt die Geschichte auswendig, eben „by heart“. Auf ihrer Reise durch das Märchen erkundet „Alice By Heart“ die Begegnung mit der ersten Liebe, die Bewältigung von Schmerzen und den Mut, nach vorne zu blicken. Am Ende aber steht für die beiden die Rückkehr in die Realität des unterirdischen Schutzraums, die Rückkehr zu Krieg und Krankheit. Und doch: „Alice By Heart“ ermutigt alle, die Kraft der Fantasie zu feiern, selbst in den härtesten Zeiten.“

Das klingt nicht nur verwirrend, es ist es auch. Verwirrend, weil die Kreativen Sheik und Sater in der Tradition von „Spring Awakening“ tief in die überfordernde Gefühlswelt von Heranwachsenden eindringen, verwirrend auch, weil sie das Ganze in die Welt von Lewis Carrolls „Alice im Wunderland einbetten und dann die Handlung noch in den Blitzkrieg in London im Jahr 1941 verlegen. Ganz schön harter Tobak…

Das Setting ist karg, aber sehr einfallsreich. mit den verschiebbaren Stockbett-Elementen schafft Barbara Bloch immer wieder neue Räume, die die Phantasie anregen und für die moderne Inszenierung von „Alice“ gleichermaßen funktionieren wie für den Luftschutzbunker, in dem die Zuschauer Alice und Alfred zu Beginn kennenlernen. Rhea Gubler übersetzt Saters Kompositionen in zeitgenössische, anspruchsvolle Choreographien, die die jungen Darsteller mit viel Energie umsetzen. Philipp Lang und Pascal F. Skuppe liefern mit der kleinen, aber feinen Band eine sauber abgestimmte Untermalung ab, bei der – wie auch schon bei „Spring Awakening“ – ein Cello nicht fehlen darf. Die feinen Zwischentöne sind, auf die es sich zu achten lohnt.

Die Szene, in der Alice zum ersten Mal auf die Raupen – ja, hier sind es zwei – trifft („Chillin‘ the regrets“ / „Ohne Sorgen chillen“), ist aus einem Guss: Optik, Choreo, Texte – alles bildet ein absolut stimmiges Gesamtbild. Hier hat Friedrich von Mansberg ein perfektes Kunstwerk abgeliefert! Der anschließende Monolog der Herzogin ist ebenfalls sehr gelungen. Frederike Haas hat die englischen Dialoge und Songs sehr modern und singbar ins Deutsche übertragen.

Während die Teeparty des verrückten Hutmachers eine sehr rätselhafte Szene ist und sich dem Publikum nicht gänzlich erschließt, lässt einen der Auftritt der Jabberwockys den Atem anhalten: Die Stimmung ist bösartig, fast schon gruselig (kleine Kinder während im Zuschauerraum sicherlich überfordert), die Szenerie ist perfekt gestaged, alle Darsteller agieren auf den Punkt. Das Highlight dieser Inszenierung!

Leider bleibt die Herzkönigin im Vergleich zu anderen Adaptionen von „Alice im Wunderland“ in Lüneburg etwas blass, doch Alice setzt sich ihr gekonnt zur Wehr. Der sehr harmonische Finalsong („Winter Blooms“) rundet diese emotionale Achterbahnfahrt sehr gut ab und erdet die Zuschauer.

„Alice by Heart“ erzählt eine Geschichte von Krieg, Krankheit und Tod, aber sie ist auch eine Geschichte von Liebe, Freundschaft und Mut. Am Ende sind es vor allem Freundschaft, Mut und Kreativität, die von diesem spannenden Musical in Erinnerung bleiben. Eine überaus sehenswerte Produktion des Jungen Musicals Lüneburg!.

Michaela Flint

Theater: Theater Lüneburg
Besuchte Vorstellung: 8. Dezember 2024
Darsteller:
Isolde Gogolin / Pia Naegeli, Leo Ehmke / Lasse Kuk, Frithjof Gerken / Davina Yousef / Margarita Georgiadis, Jonathan Blankemeyer / Leonie Naujoks, Anneke Kramer / Lotta Wroblewski, Janosh Kratz / Arndt Möller, Hanna Langenbrink / Carolin Rohde, Carla Rossow / Carina Bähr, Franziska Hasenauer / Jakob v. Mansberg, Sascha Littig
Regie / Musik & Texte: Friedrich von Mansberg / Duncan Sheik & Steven Sater
Fotos: Jan Hoek & Nicolai Stephan

 

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