home 2017 Auf dieses herausragende, inhaltlich topaktuelle Musical hat Hamburg gewartet!

Auf dieses herausragende, inhaltlich topaktuelle Musical hat Hamburg gewartet!

Hamburg ist Deutschlands unangefochtene Musicalhauptstadt, doch einen echten West End Hit hat man hier seit der Premiere von „König der Löwen“ 2001 nicht mehr gesehen. Schon die Ankündigung der Mehr! Entertainment GmbH weckte die Vorfreude: Die UK-Tour von „Billy Elliot“ macht im Juli 2017 in der Originalfassung Station in Hamburg.

Damit auch alle Zuschauer der durchaus vielschichten Handlung und vor allem dem besonderen nordenglischen Akzent folgen können, wurden links und rechts der Bühne große Monitore platziert, auf der die Dialoge und Songtexte mehr oder weniger gelungen ins Deutsche übersetzt wurden.

Dass das Theater am Großmarkt keine idealen Rahmenbedingungen für Musicals bietet, ist inzwischen bekannt. Auch bei „Billy Elliot“ lässt die Akustik sehr zu wünschen übrig. Eine hanseatisch-frische Brise bekommen all jene zu spüren, die am Rand der Sitzreihen ihren Platz gefunden haben. Und dass das Bar- und Foyer-Personal kurz vor dem Finale gemeinsam und für die Zuschauer gut sichtbar in den Backstage-Bereich geht, um kurze Zeit später in Privatkleidung wieder nach vorn zu kommen, ist auch etwas unglücklich. Schade war auch, dass nur zwei Tage nach der Premiere der Rang wegen zu wenig verkaufter Tickets geschlossen war.

Doch das waren auch schon die einzigen Wermutstropfen dieses Abends. Die Show begeisterte das Publikum so sehr, dass es mittendrin stehende Ovationen gab und der Schlussapplaus nur durch die angeschaltete Saalbeleuchtung beendet wurde.

Das Stück wurde vor mehr als 12 Jahren im Londoner Victoria Palace Theatre uraufgeführt. Schon damals überschlugen sich Kritiker und Zuschauer mit Lob. Elton Johns Kompositionen – allen voran „Solidarity“ und „Electricity“, Peter Darlings atemberaubende Choreographien und Stephen Daldrys Fingerspitzengefühl in Sachen Personenregie ergeben eines der erfolgreichsten Musicals der letzten 15 Jahre.

Die Tournee-Besetzung in Hamburg wird den Erwartungen in jeglicher Hinsicht gerecht. Emile Gooding hat Billys nordenglischen Akzent perfektioniert. Er ist selbstbewusst und gefühlvoll. Dass er „Electricity“ mit großer Verbitterung über die Rampe bringt, gibt dem ansonsten eher verzweifelten Song einen angenehmen neuen Touch. Zudem tanzt er wirklich exzellent. Das Pas de Deux mit dem „erwachsenen Billy“ ist eines der Highlights der Show. Das Publikum honoriert dies mit minutenlangem Applaus.

Als Billys Dad und seine Grandma stehen Martin Walsh und Andrea Miller auf der Bühne. Beide sind zwar nicht die besten Sänger, agieren aber mit viel Gefühl. Sie kümmern sich aufopferungsvoll um Billy und wenn sich beide an die Vergangenheit erinnern („Grandma’s Song“ und „He could be a Star“), bekommen die Charaktere sehr viel Tiefgang. Miller ist überzeugend gefühlvoll und liebevoll verrückt zugleich, während Walsh die Verzweiflung und das Hin- und Hergerissensein zwischen Grubenkumpel-Loyalität und seinem kleinen Sohn sehr glaubhaft mit Leben füllt.

Billys experimentierfreudiger Freund Michael wird von Henry Farmer mit viel Energie und einem unglaublichen Selbstbewusstsein gespielt. Die Jungen verstehen sich sehr gut und haben sichtlich Spaß auf der Bühne, obwohl die Choreographien alles andere als trivial sind und sie sich viel Text merken müssen.

Anna-Jane Casey gibt die liebevoll-verschrobene Tanzlehrerin Mrs. Wilkinson. Dass ihr Billy am Herzen liegt, spürt man schon, wenn sie ihm den Brief seiner verstorbenen Mutter vorliest („Please, Billy“). Es ist mucksmäuschenstill im Theater, die mit diesem Song transportierte Liebe ist im ganzen Saal greifbar. „Born to Boogie“ dagegen ist auch in der Tour-Fassung eine amüsante, schwungvolle Nummer, in der Gooding, Casey und Daniel Paige als Pianist Mr. Braithwaite tänzerisch und komödiantisch voll aufdrehen.

Weitere Highlights sind Michaels Freude über das Tutu, welches Billy ihm schenkt, sowie die einschüchternde Polizeikette, die mit Mrs. Wilkinsons Ballettklasse tanzen. Wenn die Grubenkumpel für Billy Geld spenden, damit er zur Audition nach London fahren kann, bleibt kein Auge trocken. Gleiches gilt für die urkomische Hatz als Billys Dad, Bruder und Grandma darüber „diskutieren“, ob sie den Brief der Royal Ballet School öffnen sollen oder nicht.

Anders als in der Londoner Produktion, aber dennoch sehr gelungen, ist die Einkesselung der Streikbrecher und der dadurch sehr gut veranschaulichte Perspektivenwechsel, dargestellt durch einen beweglichen Gitterkäfig, sowie die Untertage-Fahrt der Kumpel am Ende des Stücks.

Diese Show feiert die Individualität: Werde Balletttänzer, wenn Du dazu Lust hast, zieh ein Tutu an, wenn es Dir gefällt, unterstütze Dein Kind bei der Erreichung seines Traums! Ignoriere alle Vorurteile gegen Homosexualität, lass die Anfeindungen der Arbeitskollegen an Dir abprallen: Sei Du selbst! „Billy Elliot“ ist auch 17 Jahre nach der Kinopremiere immer noch aktuell, denn Träume hat jede/r und es sollte jede/r die Möglichkeit haben, so zu leben, wie er / sie es möchte!

„Billy Elliot“ begeistert das Publikum in einem Maße, wie ich es in Hamburg lange nicht mehr erlebt habe. Die normalen Ticketpreise sind eindeutig zu hoch, doch mit dem „Family & Friends“-Angebot ist ein Besuch dieser Show nicht nur erschwinglich, sondern für Musicalfans fast schon Pflicht! Denn so gut die DVD aus London auch ist, mit einer Live-Show ist sie nicht vergleichbar!

Michaela Flint

Theater: Mehr! Theater am Großmarkt, Hamburg
Besuchte Vorstellung: 1. Juli 2017
Darsteller: Emile Gooding, Henry Farmer, Ann-Jane Casey, Andrea Miller, Martin Walsh
Musik / Regie:  Elton John / Stephen Daldry / Julian Webber
Fotos: Stefan Malzkorn
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