In den letzten Jahren haben uns viele Verfilmungen von West End Produktionen erreicht (u.a. „Billy Elliot“, „Miss Saigon“). Jede einzelne ist ein Beleg für die hohe Qualität, die jedes Londoner Musical auszeichnet.
Auch die 2018er Produktion von Rodgers und Hammersteins Klassiker bildet hier keine Ausnahme. Das Stück hat mit seinem 67 Jahren bereits das Rentenalter erreicht, dies ist jedoch kein Grund, Anna, den König und seine 67 Kinder aufs Altenteil zu schicken. Im Gegenteil!
Bartlett Sher hat den traditionsreichen Stoff erfrischend stilvoll inszeniert. Er legt großen Wert auf die Ausarbeitung der Charaktere: Anna, der König, Tuptim, Lady Thiang – sie alle zeigen mehr Facettenreichtum als man es aus früheren Produktionen kennt. Das einzige, was auch Sher nicht gelingt, ist den Spannungsbogen über das Stück im Stück (im zweiten Akt) hinaus zu halten. Tuptims kreative Rache am König ist zwar schön anzusehen, aber doch zu langatmig.
Michael Yeargan schafft mit wenigen Großkulissen wie dem Schiff oder den Säulen im Königspalast ein stimmungsvolles Ambiente, das den Darstellern ausreichend Raum zum Agieren gibt.
Diesen Raum braucht vor allem Kelli O’Hara in ihren weit ausladenden Reifrock-Kleidern. Catherine Zuber hat für die Lehrerin traumhaft schöne Kleider geschaffen, aber auch die Roben des Königs und die Kostüme der Kinder und Frauen sind sehr detailliert und hochwertig.
Aber nicht nur optisch überzeugt diese Produktion vollends. Auch Christopher Gattellis Choreographien stehen denen von Jerôme Robbins in nichts nach. Das Medium Film verzeiht an dieser Stelle keinen noch so kleinen Fehler, aber das Ensemble ist so gut, dass es hier so gut wie nichts zu mäkeln gibt.
Beim Casting hat man mit Kelli O’Hara und Ken Watanabe auf eine sichere Bank gesetzt, denn beide haben ihre Rollen schon in früheren Engagements gespielt. O’Hara scheint die Idealbesetzung der englischen Lehrerin zu sein. Ihr Charme, ihr Lächeln, ihre erhabene, wohlwollende Ausstrahlung – das alles macht sie zu einem sehr liebenswerten Charakter. Doch auch ihr Selbstbewusstsein, mit dem sie dem König die Stirn bietet, wirkt absolut authentisch. Zudem singt O’Hara auch noch glockenhell und legt viel Gefühl in jeden Ton. Ich wüsste nicht, was man an dieser Rolleninterpretation noch besser machen könnte.
Watanabe kennt man eher aus dem Filmgenre als von der Musicalbühne, doch in der Rolle als König von Siam lassen sich die mangelnden Gesangskenntnisse gut kaschieren. Watanabe ist sehr stattlich, bestimmend, zeigt aber dennoch Gefühle und Verletzlichkeit. Der gemeinsame Tanz von ihm und Anna („Shall we dance?“) sprüht vor Zuneigung. Auch Schlagfertigkeit und Wortwitz geben der unmöglichen Beziehung zwischen Anna und dem König eine wundervoll nahbare Dimension. Watanabe und O’Hara harmonieren hier perfekt.
Na-Young Jeon und Ruthie Ann Miles sind als Tuptim und Lady Thiang zu erleben. Beide bringen die tiefen Gefühle ihrer Alter Egos glaubhaft über die Rampe. Jeons „We kiss in a shadow“ zeugt von großer, verzweifelter Liebe. Miles „Something wonderful“ steht dem in nichts nach. Naturgemäß sind ihre Rollen zwar kleiner, aber deshalb nicht weniger bedeutsam.
Die Kinderdarsteller sind wie immer im West End exzellent. Eigene Soli und lange Monologe wie von Louis und der kleinsten Königstochter erfordern eine hohe Disziplin und Konzentration. Die Kinder meistern diese Herausforderung problemlos.
Auch die männlichen Nebenrollen Chulalongkorn (Jon Chew), Lun Tha (Dean John-Wilson) und Kralahome (Takao Osawa) sind sehr gut besetzt und jeder hat seinen starken Moment.
„The King and I“ ist ein hochdramatischer, sehr emotionaler Stoff. Dies bricht sich insbesondere im zweiten Akt Bahn, wenn Tuptim nach ihrem den König bloßstellenden Theaterabend die Todesstrafe zu erwarten hat. Dass Anna trotz ihres mehr oder weniger offensichtlichen Einflusses auf den König hier keine Handhabe hat, stürzt sie in einen Gewissenskonflikt. Die schwere Erkrankung und schließlich der Tod des Königs machen den Weg frei für Prinz Chulalongkorn , der aus den westlichen Lehren von Anna viel für seine Regentschaft mitnimmt.
Das Geschehen auf einer Musicalbühne filmisch einzufangen, ist nicht immer ganz leicht. Bei „Billy Elliot“ gelang dies hervorragend, bei „Miss Saigon“ haben die unzähligen Nahaufnahmen das Erlebnis eher gestört, doch hier bei „The King and I“ wurde genau das richtige Maß gefunden. Man hat auch im Kinosaal noch das Gefühl im Theater zu sitzen und der spontane Applaus am Ende der „Vorstellung“ zeigt, wie sehr die Besucher in die Geschichte eingetaucht sind.
Ich freue mich schon jetzt, auf die für 2019 / 2020 bereits angekündigten Live-on-Stage-Verfilmungen von „Cats“, „Joseph“ und „42nd Street“!
Michaela Flint
Regie: Bartlett Sher
Darsteller: Kelli O’Hara, Ken Watanabe, Edward Baker-Duly, Jon Chew, Na-Young Jeon, Dean John-Wilson, Ruthie Ann Miles, Takao Osawa
Musik / Buch: Richard Rodgers / Oscar Hammerstein II
Fotos: Matthew Murphy / Paul Kolnik