home 2019 Ein sehr ungruseliges Stephen King Musical

Ein sehr ungruseliges Stephen King Musical

Stephen King ist bekannt für lupenreinen Horror. Natürlich funktioniert dieser naturgemäß in den Köpfen der Leser am Besten. Kein Film und kein Theaterstück kann an die Idealvorstellungen heranreichen, die sich jeder Leser in seinem Kopf zurechtgelegt hat.

Am Broadway ist „Carrie“ fulminant gefloppt. Nach nur 16 Previews und 5 regulären Vorstellungen war 1988 die Reise von Carrie White und deren fanatischer Mutter zu Ende.

Das First Stage Theater hat in der Vergangenheit mehr auf Mainstream-Produktionen gesetzt und so verwundert es wenig, dass Intendant Thomas Gehle das Premierenpublikum direkt um Mithilfe beim Kauf weiterer Tickets bittet. Denn auch in Hamburg scheint dieser Stoff trotz großflächiger Werbung das Musicalpublikum nicht wirklich zu interessieren.

Dabei hat das Kreativteam keine Mühen gescheut, die Bühne des First Stage Theaters aufwendig umgebaut und eine wunderbar dunkle Kulisse für die traurige Geschichte von Carrie geschaffen.

Eigentlich ist Carrie ein ganz normaler Teenager in einer kleinen US-Stadt. Sie wächst allein bei ihrer Mutter auf, deren zugegebenermaßen extreme Religiosität das Kind in seiner Entwicklung einschränkt. Folglich ist sie gekleidet wie das sprichwörtliche Mauerblümchen, hat keine Hobbies außer Lesen und Nähen und nimmt auch am gesellschaftlichen Leben ihrer Klassenkameraden nicht Teil. Es wirkt alles wie das typische Klischee, aber nicht außergewöhnlich.

Das Unheil nimmt seinen Lauf als Carrie zum ersten Mal ihre Tage bekommt, ein Ereignis, von dem sie bisher nichts wusste. Die Mitschülerinnen ziehen sie aufs Übelste mit ihrer Unwissenheit und Angst auf. Mutter Margaret ist auch keine Hilfe, im Gegenteil: Ab sofort hält diese ihre Tochter für unsauber und verflucht, und sperrt sie direkt ein.  Gleichzeitig entdeckt Carrie, dass sie über telekinetische Kräfte verfügt und baut diese immer weiter aus.

Einige Mitschüler, insbesondere Sue, haben ein schlechtes Gewissen. Sue überzeugt ihren Freund Tommy, Carrie zum Abschlussball einzuladen. Damit will Sue sich einerseits entschuldigen, aber andererseits auch ihr Gewissen reinwaschen, denn auch sie hat sich am Mobbing von Carrie beteiligt.

Hin- und hergerissen zwischen Zweifel und Vorfreude schneidert sich Carrie ein Ballkleid und versucht verzweifelt mit ihrer Mutter über das anstehende Großereignis zu sprechen. Diese projiziert jedoch die eigenen Erlebnisse auf Carrie und verteufelt alles, was mit Männern und Tanzveranstaltungen zu tun hat. Carrie fängt an sich gegen die Mutter aufzulehnen und will um jeden Preis auf den Ball. Margrets Befürchtungen treten nicht ein und Tommy holt Carrie tatsächlich zum Ball ab.

Während ihre Tochter auf dem Ball tanzt, ersinnt die Mutter den einzig möglichen, fatalen Ausweg, um Carrie von ihrer Besessenheit zu lösen…

Nichtsahnend genießt Carrie den Ball und die neue, positive Aufmerksamkeit. Tommy und sie werden sogar zum Ballkönigspaar gewählt. Dies geschieht jedoch leider aufgrund einer Intrige von Chris, die es nicht akzeptieren will, dass sie für das Mobbing an Carrie bestraft wird. Gerade als das Königspaar „gekrönt“ wird, schütten Chris und ihre Freunde einen Eimer Blut aus.

Tommy wird von dem herabfallenden Eimer erschlagen und Carrie wird unglaublich wütend. Sie hat ihre Kräfte noch nicht wirklich im Griff und so endet der Ball in einem riesigen Rachemassaker, in dem Carrie alle Mitschüler (bis auf Sue) tötet.

Sie flüchtet nach Hause und trifft dort auf die vermeintlich überbesorgte Margret, die aber die erste Gelegenheit nutzt, um ihrer Tochter ein Messer in den Rücken zu rammen. Mit letzter Kraft richtet Carrie die Waffe auf ihre Mutter und bringt auch sie um.

Die Handlung insgesamt ist weder besonders mystisch noch brutal. Ja, Carrie ist blutverschmiert am Tag ihrer ersten Regel und ja, sie sieht arg verschmiert aus, nachdem der Eimer Blut über ihr ausgeleert wurde. Aber das war es dann auch schon an Horror. Ansonsten ist diese „Carrie“ eher eine oberflächliche Charakterstudie über Teenager, die sehr viel bösartiger sein können, als manch einer denkt, sowie eine überfürsorgliche Mutter, die ihre eigene Jugend nicht verarbeitet hat und sich in eine radikale Glaubensansicht flüchtet.

Geht man ohne Erwartungen in dieses Stück kann man durchaus gut unterhalten werden. Das Bühnenbild ist stimmig und für solch ein kleines Theater beeindruckend. Felix Wienbürger hat hieran gemeinsam mit Regisseur Felix Löwy gearbeitet. Auch für das sehr gute Lichtdesign zeichnet Wienbürger verantwortlich. Die Kostüme von Associate Director Lauren Slater-Klein sind passend für Zeit und Ort, in der die Handlung angesiedelt ist.

Phillip Kempster hat mit dem Ensemble die Choreographien erarbeitet. Hier ging es aber augenscheinlich mehr darum, möglichst viele Absolventen der Stage School in Bewegung zu zeigen, als die Klasse einzelner hervorzuheben. Infolgedessen sind die Tanzszenen nicht allzu anspruchsvoll und wirken manchmal wie nicht notwendiges Füllwerk. Bestes Beispiel ist hierfür die Auftaktszene des zweiten Akts, in der die Schüler zweideutig fordern „Wir wollen, dass es knallt!“. Inhaltlich bringt dieser Song das Stück leider nicht voran.

Dies ist aber dem größten Schwachpunkt geschuldet, denn das Buch von Laurence D. Cohen kratzt nur an der Oberfläche der durchaus spannenden Charaktere. Das im Programmheft angekündigte „unter die Haut gehende Drama“ sucht man leider vergebens.

Mit Maya Hakvoort wurde eigens eine herausragende Musical-Darstellerin engagiert, die als Mutter Margret ihre Erfahrung ausspielt. Hakvoort stellt eindrucksvoll unter Beweis, dass es keine grelle Schminke und bauschige Kostüme braucht, um einem Charakter Präsenz und nachdrückliche Intensität zu verleihen. Es ist fast schon bemitleidenswert wie sehr sie ihre Tochter zu beschützen versucht. Der fanatische Glaube an Gott und der unbedingte Wille Carrie von deren Besessenheit zu befreien, ist greifbar. „Eine Hexe darfst Du nicht am Leben lassen“ ist ein Satz, der in seiner Klarheit und Fatalität für Gänsehaut sorgt.

Neben diesem Vollprofi zu bestehen, ist keine leichte Aufgabe. Doch Lorena Dehmelt muss sich nicht verstecken. Sie ist sowohl als Mobbingopfer als auch als unterwürfige Tochter glaubwürdig. Ihre Wissbegierde bezüglich der Telekinese und das Erstarken ihrer Kräfte nimmt man ihr ab. Wenn sie sich final auf dem Ball an allen Mitschülern rächt, nur um dann von der eigenen Mutter verraten und erstochen zu werden, ist dies sehr ergreifend.

Larissa Pyne als Sue, Tim Taucher als Tommy und Alexandra Nikolina als Rädelsführerin Chris spielen ihre Rollen gut, teilweise so gut, dass man meint, sie würden auch im wahren Leben so sein wie sie sich auf der Bühne geben.

Die weiteren 19 Nachwuchsdarsteller fügen sich gut in das weitgehend harmlose Gesamtkonzept ein. Felix Löwy hat sich in seiner Regie auf drei Hauptcharaktere konzentriert. Dass aber außer Margret, Carrie und Sue noch weitere vielschichtige Spielebenen vorhanden sind, wurde von ihm nicht ausgearbeitet.

Man kann durchaus verstehen, dass „Carrie“ kein Mainstream-Stück ist. Der Stoff zieht das interessierte, eher nach leichter Unterhaltung suchende, Musicalpublikum nicht an. Für das kommende Jahr wünscht man sich auch für das First Stage wieder ein Stück mit mehr Begeisterungspotential. „Carrie“ war einen Versuch wert, aber bei weitem nicht die sichere Bank, die ein „Fame“ im letzten Jahr war.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: First Stage Theater, Hamburg
Premiere: 17. Juni 2019
Darsteller: Maya Hakvoort, Lorena Dehmelt, Larissa Pyne, Tim Taucher, Alexandra Nikolina 
Regie / Musik: Felix Löwy / Michael Gore
Fotos: First Stage Theater / Dennis Mundkowski