home 2016 Das bewährte Konzept geht diesmal in Kiel nicht ganz auf

Das bewährte Konzept geht diesmal in Kiel nicht ganz auf

Beim Gedanken an Schillers Klassiker „Die Räuber“ schüttelt es sicherlich so manchen Zuschauer in Kiel – mussten doch vermutlich viele von ihnen den ungelenken Fünfakter im Deutschunterricht monatelang durcharbeiten. Dabei ist die Handlung gar nicht so unverdaulich: Franz, der verkrüppelte (politisch korrekt: mobilitätseingeschränkte) Sohn vom alten Moor, sinnt vor Neid und Eifersucht auf Möglichkeiten, sich seines ungeliebten Bruders Karl für immer zu entledigen. Er möchte die Gunst des Vaters erlangen und Amalia, Karls Verlobte, für sich gewinnen.

Karl ahnt hiervon nichts, entzog er sich doch schon früh der Hand des Vaters, um in Leipzig zu studieren. Franz lässt nichts unversucht, beim Vater gegen den Bruder zu sticheln und so dem ersehnten Erbe des gebrechlichen alten Mannes näher zu kommen. Ein gefälschter Brief sorgt schließlich dafür, dass der alte Moor seinen geliebten Karl offiziell verstößt. Karl durchschaut die List zwar, zieht sich aber gekränkt in den Untergrund zurück, um jetzt erst recht gegen die Reichen und Mächtigen zu rebellieren. Doch auch unter den Räubern hat Karl Feinde: Moritz Spiegelberg kann nicht verstehen, warum seine Kumpel in Karl einen Anführer sehen, dem sie blind folgen. Er zettelt eine Meuterei an, der er schlussendlich selbst zum Opfer fällt.raeuber_6

Auch Franz ist scheinbar erfolgreich als er seinem Vater die Lüge von Karls Tod auftischt und dieser daraufhin vor Gram über Karls unangepasstes Leben und Sterben im Untergrund die Treppe herunterfällt und aufhört zu atmen. Nun ist der Weg frei für den mächtigen Franz Moor. Es gelingt Franz jedoch nicht, Amalias Herz zu erobern. Sie trauert um ihre große Liebe Karl.

Was Franz nicht weiß, ist, dass die Dienstboten alle treu zu Karl stehen. So rettet Herrmann dem alten Moor das Leben und päppelt ihn in einem Geheimversteck wieder auf. Als Karl, aufgeschreckt von der Nachricht über die Brutalität seines Bruders und angestachelt von seinen aus Spaß an der Freund mordenden Räubern, inkognito nach Hause reist, erkennt ihn Hausdiener Daniel und rettet ihm das Leben. Karl flieht überstürzt als sein Bruder ihn zu erkennen droht und trifft dabei zufällig auf Herrmann, der ihn zu seinem Vater führt. Dieser stirbt in Karls Armen. Nun ist es Karl, der auf Rache sinnt. Doch sein Bruder kommt ihm zuvor und bringt sich, wahnsinnig vor Verfolgungswahn, um.

Karl steht vor den Scherben seines Lebens: Vater und Bruder tot, vermeintliche Freunde mit falschen Moral- und Wertvorstellungen und eine Verlobte, die er mit diesem Leben nicht belasten möchte.

Daniel Karasek inszeniert diese emotionale Achterbahn nach demselben Schema wie 2014 Shakespeares „Romeo und Julia“. Auch diesmal steuerte mit „Kettcar“ eine zeitgenössische Band den musikalischen Teil dieser als Rockoper bezeichneten Open Air Produktion im Kieler Hafen bei. Die Handlung wurde in die heutige Zeit verlegt und das Ensemble durch viele Spielebenen und eine große LED-Wand vielfältig in Szene gesetzt.

Leider werden „Die Räuber“ sehr dialoglastig umgesetzt und die Musik spielt eine unterordnete Rolle. Das Dramatische einer Oper hält dieser Stoff allemal parat, Kurzweiligkeit und Unterhaltungswert leiden aber stark unter der unausgewogenen Umsetzung.

raeuber_10Die 5 Spielebenen (Lars Peter) – links das dreigeschossige Haus der Moors, rechts der Treffpunkt der Rebellen und der Wald (angedeutet durch eine frisch geschlagene Fichte) – werden gut ausgenutzt. Kampfszenen finden teilweise direkt vor der ersten Sitzreihe statt, die Darsteller spielen ungesichert in bis zu 7m Höhe: Hier stockt einem mehr als einmal der Atem, wenn man an all die Sicherheitsvorschriften für Bühnenwerke denkt, die in Kiel nicht beachtet werden.

„Kettcar“ ist eine Indie-Band, die in ihren Songs klar Stellung zum Weltgeschehen bezieht. Gerade bei den Songs der Räuber klingt dies nachdrücklich durch: Sie nehmen kein Blatt vor den Mund und sagen deutlich, was ihnen nicht passt. Die Balladen hingegen sind für „Kettcar“-Fans eher ungewöhnlich. Das Ziel von Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff war es, „die Emotionen des Stücks noch weiter zu potenzieren und umgekehrt die Songs durch den Boden, auf dem sie durch den Stoff und die Inszenierung stehen, noch heller strahlen“ zu lassen (Interview im Programmheft). Leider muss man jedoch festhalten, dass – mit Ausnahme von drei Songs – alles sehr ähnlich klingt. Insgesamt bekommt das Publikum in den drei Stunden nur 16 Stücke zu hören. Diese Zahl unterstreicht das Missverhältnis zwischen Dialog und Gesang an diesem Abend.

„Wolf unter Wölfen“, in dem Franz all seine Abscheu gegen den Vater und seinen Bruder mit jeder Menge negativer Energie zum Ausdruck bringt, lässt als Auftakt auf spannende Kompositionen hoffen. Doch leider bleiben die meisten Songs in der Folge monoton und sehr schlagzeuglastig. „Tod oder Freiheit“, das Finale vom 1. Akt, kann diese Intensität gut vertragen, Balladen wie Amalias „Totenklage“ oder „Lebendig begraben“ vom alten Moor eher weniger. Die beiden finalen Soli von Franz („Flammen“) und Karl („Ich war ein Sohn“) sind druckvoll und verfehlen die gewünschte Wirkung nicht.

Dass „Die Räuber“ musikalisch so irritieren, liegt sicherlich auch daran, dass beispielsweise Magdalena Neuhaus und Rudi Hindenburg (als Julia und Mercutio 2015 durchaus überzeugend) als Amalia und Spiegelberg nicht in ihrer gewohnten Stimmlage singen. Sie scheinen sich nicht wohl zu fühlen mit den Songs, weshalb es ihnen auch kaum gelingt, die entsprechenden Gefühle zu transportieren. Auch der Sprechgesang von Zacharias Preen, der als Schauspieler durchaus zu überzeugen weiß, mag so gar nicht zur Sanftheit einen gebrochenen Vaterherzens passen.

Diese Rockoper nimmt vor allem dann an Fahrt auf, wenn sich die Gefühle der Protagonisten in direkten Konfrontationen Bahn brechen. Dazu zählen die kraftvollen Dialoge von Marko Gebbert als Franz und vor allem die Auseinandersetzungen von Oliver E. Schönfeld und Rudi Hindenburg als Karl und Spiegelberg. Die Mischung von alter und moderner Sprache funktioniert über weite Strecken sehr gut. Auch hier hat Karasek Anleihen bei seinem erfolgreichen „Romeo und Julia“ Musical gemacht. Dennoch kommt es zu ungewöhnlich vielen Verhasplern bei allen Darstellern.

Nichtsdestoweniger überzeugen vor allem Gebbert und Schönfeld als verfeindete Brüder. Während es Gebbert gelingt, das Publikum seinen Hass auf Karl fast plastisch spüren zu lassen, ist es Schönfelds sanftmütige Ausstrahlung, die welche die Zuschauer fesselt. Er vermag es, einerseits allein durch seine Bühnenpräsenz der Rolle als Anführer gerecht werden, bringt aber auch die Verletzbarkeit sowie das Hin- und Hergerissensein zwischen echter Revolte und falsch verstandenem Spaß seiner Räuber sehr glaubhaft nach vorn. Beide stützen ihre sehr langen Monologe durch abwechslungsreiche Mimik und Gestik.

Flankiert wird das Geschehen auf der Bühne durch eine LED-Wand, auf der mehr oder weniger passende Videos gezeigt werden. Einmal mehr eine Wiederholung dessen, was bei „Romeo und Julia“ gut funktioniert hat. Kay Otto und Aron Krause zeigen u. a. die Räuber bei ihren Überfällen, mit einem Hang-Over, lassen Amalia allein durch ein Schloss spazieren und Karl im Zeitraffer altern. Über die Sinnhaftigkeit dieser Videos kann man sicherlich diskutieren. Die Handlung bringen sie jedenfalls nicht voran.

Nach dem Besuch der „Räuber“ bleibt Ernüchterung. Wer sich auf eine frische, moderne, straffe Inszenierung gefreut hatte, erlebte ein langatmiges Drama mit wenigen musikalischen Momenten, die wenn auch live gespielt (Leitung: Ture Rückwardt), dennoch recht eintönig bleiben. Das ist schade, denn der Stoff von Schillers „Die Räuber“ hat definitiv das Zeug zu einem hochspannenden Musical.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Open Air Bühne am Seefischmarkt, Kiel
Besuchte Vorstellung: 2. Juli 2016
Darsteller: Magdalena Neuhaus, Oliver E. Schönfeld, Rudi Hindenburg, Marko Gebbert
Musik / Regie:  Kettcar / Daniel Karasek
Fotos:  Olaf Struck