Im 21. Jahr zeigt der Verein, der die Clingenburg Festspiele durchführt, neben dem Schauspielklassiker William Shakespeares „Othello“ Frank Wildhorns Musicalversion von Bram Stokers „Dracula“. Beide Stücke sind hochdramatisch und wesentlich abhängig von ihren namensgebenden Titelfiguren.
Der Schauplatz für „Dracula“ könnte passender kaum sein: Die verfallene Clingenburg (12. Jahrhundert) im Hintergrund, knorrige Eichen und ein abschüssiges Gelände mit verwinkelten Wegen – doch, so ähnlich kann man sich Transsylvanien vorstellen.
Die Ouvertüre nimmt die leider sehr überschaubare Zuschauerzahl (Auslastung zwei Wochen nach der Premiere nur ca. 50 %) direkt gefangen. Andrew Hannan hat sein kleines aber feines Orchester gut im Griff. Die Tempi stimmen und tontechnisch trägt Horst Deller seinen Teil dazu bei, dass Frank Wildhorns Kompositionen vollumfänglich genossen werden können.
Direkt zu Beginn lädt Graf Dracula den schüchternen Jonathan Harker in sein Schloss – natürlich nicht ohne Hintergedanken. Der Zufall will es, dass Dracula in Jonathans Verlobten Mina seine große Liebe wiedererkennt. Fortan setzt er alles daran, Mina in London zu treffen und ihre Liebe wieder aufleben zu lassen. Er hinterlässt dabei eine deutliche Blutspur: Minas Freundin Lucy, die sich eben noch über die Avancen gleich dreier stattlicher Gentlemen gefreut hat, wird von ihm kurzerhand zum Vampir gemacht. Als Lucys Verehrer (Adliger Arthur, Arzt Jack und Cowboy Quincey) gemeinsam mit Jonathan unter der fachkundigen Anleitung von Prof. van Helsing Jagd auf den Nosferatu machen, wird auch Quincey zu seinem Opfer.
Zwischendrin findet Dracula aber dann doch die Zeit für ein Stelldichein mit seiner Mina, die den Verlockungen des stattlichen Vampirgrafen sofort verfällt. Doch das Paar wird von den Vampirjägern jäh unterbrochen und Dracula flüchtet zurück in seine Heimat.
Dort spüren ihn van Helsing und seine Gefolgschaft jedoch erneut auf. Sie stellen ihm eine Falle, merken dabei aber nicht, dass Dracula und Mina bereits andere Pläne haben. Schließlich bittet Dracula Mina um den ultimativen Gefallen und stürzt sich – da sie ihm diesen Gefallen natürlich verwehrt – in den Holzpflock in ihrer Hand. Dracula ist tot.
Draculas erster Auftritt gelingt vorzüglich: Werner Wulz ist sehr akzentuiert geschminkt, er bewegt sich geschmeidig-elegant und legt eine sehr exzentrische Mimik an den Tag. Zudem spielt und singt er sehr gut, auch wenn seine Stimmfarbe etwas zu klassisch ist für den düsteren Vampirgrafen.
Sein Widersacher, der Londoner Anwalt Jonathan Harker, wird von Thomas Klotz gespielt, der schon vor einigen Jahren im „Tanz der Vampire“ als Alfred mit dem bissigen Grafen seine liebe Müh hatte. Als Harker überzeugt er durch eine emotionale Bandbreite, die er nicht nur schauspielerisch, sondern auch gesanglich umzusetzen weiß. Einen interessanten Akzent setzt Regisseur Marcel Krohn in der Szene, in der Harker von den drei Vampirdamen in Draculas Gefolge verführt werden soll: Er wirkt hier weniger passiv und ängstlich als vielmehr sehr leidenschaftlich agierend.
Antje Eckermann spielt die von den beiden Männern so innig geliebte Mina Murray. Auch sie stand bei „Tanz der Vampire“ in Stuttgart auf der Bühne und hat dort als Sarah den Vampiren und Männern den Kopf verdreht. Sie hat eine starke Bühnenpräsenz und überzeugt als selbstbewusste, starke Frau, die ihr Leben dafür geben würde, um ihren Geliebten zu retten, genauso wie als schutzbedürftige, verletzliche Ehefrau von Jonathan. Ihre Stimme ist durchdringend und klar, aber leider fehlt es ihr gänzlich an Gefühl. Ihr großes Solo „Wär ich der Wind“ wirkt eher geschrien als entschlossen und emotional.
Vielleicht ist Eckermann aber auch ein Opfer der Tontechnik, denn Ähnliches kann man auch bei Regina Kletinitch beobachten, die als Lucy wunderbar quirlig daherkommt und nach ihrer Wandlung zum Vampir herrlich entrückt guckt und nah am Wahnsinn scheint als sie von van Helsing bedroht wird. So gleitet „Wie wählt man aus“ ins Parodiefach ab und ihre sehr intensive Todesszene verpasst ihre Wirkung.
Insgesamt fällt auf, dass Deller dem Orchester und dessen Klang ganz offensichtlich eine größere Priorität eingeräumt hat als den Sängern. Bei einem Musical ein großer Fehler. Denn wenn die Darsteller mit dem Sound kämpfen müssen, können sie sich zwangsläufig nicht mehr voll auf ihre Rollen konzentrieren. In dieser Inszenierung klingen alle Sänger zu hart und kalt, was gerade bei den gefühlvollen Soli, die Wildhorn sich für seine Protagonisten erdacht hat, mehr als bedauerlich ist.
Dies trifft auch auf „Roseanne“ zu, die Liebeserklärung von van Helsing an seine verstorbene Frau: Sascha Stead ist der überzeugendste Darsteller dieser Inszenierung, spielt er so gradlinig und unzweideutig wie kein anderer. Auch gesanglich ist er seinen Kollegen einen Schritt voraus. Mit „Nosferatu“ macht er dem Publikum nachdrücklich klar, wer sein Ziel ist und warum. Er wird als einziger Wildhorns anspruchsvoller Partitur gerecht.
Auch das Quartett von van Helsing und den ehemaligen Verehrern Lucys (Marc Trojan als Arthur, Aciel Martinez-Pol als Quincey, Franz Garlik als Dr. Jack), die mit „Eh Du verloren bist“ zum Halali auf Dracula blasen, zeigt das Potential.
In Erinnerung bleibt auch Eddie Jordan als ein überaus charmanter Renfield. Er spielt den Irren so sympathisch-verrückt, dass einem warm ums Herz wird. Leider kann aber auch er nicht zeigen, was stimmlich in ihm steckt.
Von der Inszenierung her wirft „Dracula“ einige Fragen auf. Da ist zuallererst einmal, dass das Publikum stark verunsichert scheint und nicht weiß, wann es applaudieren soll oder darf. Vielleicht mögen die Zuschauer das Stück aber auch einfach nicht und sparen deshalb mit Applaus.
Darüber hinaus ist unerklärlich, warum in Jonathans Alptraumsequenz ein Plakat mit Hitler, Mao Tse-tung (Zedong), Jesus, Attila, Napoleon und George W. Bush enthüllt wird. Spielt die Handlung doch Ende des 19. Jahrhunderts als viele der Abgebildeten noch nicht geboren waren bzw. ihr Wirkungsgrad noch nicht erkennbar war. Auch das Futter von Draculas Mantel – offenbar eine kubanische Flagge – lässt sich mit der Handlung des Stücks nicht erklären. Sollten hier politische Botschaften untergebracht worden seien, wäre dies mehr als unangemessen.
Apropos Mantel: Die Kostüme (Ulla Birkelbach) der Darsteller passen in die Zeit der Handlung und insbesondere Minas Mäntel sind sehr schön. Warum man jedoch einer rothaarigen Hauptfigur rote Kleider anziehen muss, die sich mit ihrer Haarfarbe und den weiteren Accessoires (Schuhe, Handtasche, Schal) im Ton beißen, ist verwunderlich.
Dafür achten alle Darsteller penibel darauf, mit ihren blutbeschmierten Händen und Gesichtern die Kostüme nicht zu berühren. Das Hantieren mit dem Kunstblut klappt in Klingenberg ganz hervorragend. Vampire trinken nun mal Blut und das ist offenbar alles andere als eine saubere Angelegenheit.
Diese phasenweise sehr blutige Inszenierung ist sicherlich nichts für junge Musicalfans, auch wenn offenbar einer von ihnen allabendlich mit auf der Bühne steht: Wenn Lucy mit ihrem nächsten Opfer, einem unschuldigen Mädchen von 7-8 Jahren, in die Arme von van Helsing läuft und es auf der Bühne zu lautstarken Beschwörungen, extatischen Bewegungen und schließlich Lucys Enthauptung kommt, überfordert das schon so manchen Zuschauer. Das kleine Mädchen jedoch wirkt verloren und man möchte das Stück stoppen und die Kleine in die schützenden Arme ihrer Eltern bringen. Dieses Extra hätte man regieseitig gern entfallen lassen können, denn das Mädchen ist zu jung um zu begreifen, was dort auf der Bühne passiert.
Zu den weniger erfreulichen Momenten gehören auch die Choreographien von Nadja Görts, die neben Regieassistenz und Choreographie auch selbst noch in einer Nebenrolle auf der Bühne steht. Was sie sich für die drei Vampir-Ladies (Susanne Anders, Kumari Helbling, Alexandra Kurzeja) erdacht hat, die Dracula „umschwirren“, wirkt fehl am Platz: Die unsauber getanzten Mini-Sequenzen wirken eher lächerlich. Lieber hätte sie mit ihren Kollegen das Walzer-Tanzen üben sollen: Keiner der sechs Darsteller (Lucys Verehrer, Lucy, Mina und Görts selbst) bekommt einen sauberen Dreier-Schritt auf die Bühne.
Da viele Songs aufgrund der schlechten Tontechnik ins Mittelmaß abdriften, bleiben von dieser „Dracula“-Produktion nur wenige Bilder in Erinnerung, wie bspw. Dracula, der sein „Je länger ich lebe“ auf den Zinnen der Burg, in mittelalterlichen Ruinen singt, macht viel her. Es reicht aber nicht aus, um dem diesjährigen Musical der Clingenburg Festpiele ein gutes Zeugnis auszustellen. Und so freuen sich nicht wenige schon beim Verlassen des Open Air Theaters auf „Hair“, das unter Einspielung von „Aquarius“ bereits als Sommerproduktion 2016 angekündigt wird.
Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin
Besuchte Vorstellung: 28. Juni 2015
Darsteller: Thomas Klotz, Antje Eckermann, Werner Wulz, Regina Kletinitch, Eddie Jordan
Musik / Regie: Frank Wildhorn / Marcel Krohn
Fotos: Clingenburg Festspiele