Nach dem letztjährigen Erfolg von »Jesus Christ Superstar« lag die Entscheidung nahe, den Andrew Lloyd Webber Klassiker auch in diesem Jahr wieder auf die Festspiel-Bühne in der Stiftsruine zu Bad Hersfeld zu bringen. Und der Andrang gab den Veranstaltern recht: Bereits kurz nach Vorverkaufsbeginn waren alle 28 Vorstellungen restlos ausverkauft.
Im Vergleich zum letzten Jahr haben weder die Inszenierung noch das Ensemble bemerkenswerte Änderungen erfahren; das Stück wird nach wie vor in englischer Sprache aufgeführt. Der einzige Unterschied ist, dass die Hauptdarsteller Yngve Gasoy-Romdal (Jesus) und Anna Montanaro (Maria Magdalena) ihre Engagements als Jekyll und Lucy bei »Jekyll&Hyde« in Köln für die Dauer der Festspiele komplett auf Eis gelegt haben und sich daher vollends der dramatischen Lebensgeschichte von Jesus widmen können.
Die Stiftsruine bildet eine beeindruckende Kulisse für dieses tragische Musical-Epos aus den 70er Jahren. Und die Chöre, die das Musical-Ensemble stimmgewaltig unterstützen, schaffen es problemlos, die immense Bühne mit Leben zu füllen.
Außer zwei Podesten auf der linken und rechten Seitenbühne sowie zwei Balkonen, die an die beiden mittleren Säulen angebracht wurden, gibt es kaum Kulissen bei dieser Inszenierung. Aber die akzentuierte und effektvolle Nutzung des zur Verfügung stehenden Baukasten-Schiebe-Systems des Bühnenbodens vermittelt spielend leicht den Eindruck von Herodes’ Swimmingpool mitten auf der Bühne und auch die Slums, aus denen die Armen und Gebrechlichen hervor kriechen, werden durch diverse Öffnungen im Bühnenboden hervorragend dargestellt. Besonders beeindruckend ist selbstverständlich der grüne Lasertunnel, der Jesus nach dessen Kreuzigung komplett in sich aufnimmt.
Aber der Reihe nach… »Jesus Christ Superstar« erzählt die Geschichte von Jesus letzten Tagen auf Erden. Zu Beginn des Stücks wird Jesus von der Menge bejubelt und gefeiert und der Zuschauer gewinnt sehr schnell den Eindruck, dass Yngve Gasoy-Romdal sich in der Rolle des angebeteten
Erlösers sehr wohl fühlt.
Judas ist enttäuscht, dass Jesus seine Warnung vor Leichtgläubigkeit in den Wind schlägt und verrät ihn deshalb an die Hohepriester. Nigel David Casey gibt den Verräter sehr ausdrucksstark und reißt das Publikum in seiner Verzweiflung phasenweise regelrecht mit. Bedauerlicherweise leidet sein Spiel unter der mittelmäßigen Akustik, die verhindert, dass auch seine leiseren, gefühlvollen Töne voll zur Geltung kommen.
Tom Tucker ist ein grandioser Kaiphas – seine bösartige Ausstrahlung und einschüchternde Gestalt in Kombination mit seiner tiefen Gänsehaut-Stimme lassen das Publikum vor dem Hohepriester kalt erschauern.
Die Jünger Jesu’ kommen in Chornummern wie „What’s the Buzz“ oder „The Last Supper“ als Gruppe hervorragend zur Geltung – bedauerlich ist nur, dass Sven Sorring als Petrus und Michael Kelley als Simon außer ihren wundervollen Stimmen keinerlei schauspielerischen Ausdruck in ihre Rollen legen und daher ihre gefühlvollen Soli keinen bleibenden Eindruck beim Besucher hinterlassen können.
Maria Magdalena wird von Anna Montanaro eher unterkühlt verkörpert. Während sie das Parade-Solo „I don’t know how to love him“ zu sehr phrasiert, als dass es noch liebevoll-besorgt klingen könnte, erlebt sie im Duett „Could we start again“ mit Sven Sorring (Peter) ihren größten Moment des Abends. Das Spiel mit Yngve Gasoy-Romdal (Jesus) funktioniert blind – ein Indiz dafür, dass die beiden im Laufe ihrer monatelangen Zusammenarbeit für »Jekyll&Hyde« und »Jesus Christ Superstar« ein perfekt aufeinander eingestimmtes Team bilden.
Wenn Jesus sich am Ende von „Gethsemane“ schlussendlich in sein Schicksal fügt und seinen bevorstehenden Tod akzeptiert, jagt dies dem Zuschauer Schauer über den Rücken. Dies liegt vor allem daran, dass Yngve Gasoy-Romdal die hohen Töne, die dieser Part erfordert, tatsächlich singt – ohne sie zu schreien (wie es so viele andere vor ihm getan haben) und sein Leiden besonders real wirkt.
In der Szene „Judas Death“ überzeugt Nigel David Casey einmal mehr und der Zuschauer kann seine Verzweiflung und das schlechte Gewissen regelrecht mitfühlen, das ihn schließlich in den Freitod springen lässt.
Das finale Urteil über das Ende von Jesus’ Leben hat Pilatus zu fällen. Die soulige volle Stimme von Jimmie Earl Perry passt ganz ausgezeichnet zur zwiegespaltenen Persönlichkeit von Pilatus, der zwischen Bewunderung und Hass für Jesus hin- und hergerissen ist und sich die Entscheidung nicht leicht macht.
Das bekannteste Stück – „Superstar“ – wirkt in dieser Produktion etwas chaotisch, was daran liegen mag, dass es keinen Fixpunkt auf der weitläufigen Bühne gibt: Links und rechts tanzt das gesamte Ensemble in originellen, exotisch-frivolen Kostümen, während Judas auf einem fahrbaren Baugerüst in 4,5 m Höhe über die Bühne gefahren wird. Und mittendrin sitzt „irgendwo“ ein blutverschmierter, extrem leidender Jesus.
Kaum jemand ist in den letzten Jahren auf einer Musicalbühne so „intensiv“ gestorben wie Yngve Gasoy-Romdal. In die letzten Szenen legt er all sein Gefühl und macht das Publikum glauben, dass er wirklich dem Tode geweiht ist. Seine Überzeugungsfähigkeit in der Todesszene verwundert wenig, ist er doch als Wolfgang Mozart unzählige Male eindrucksvoll ums Leben gekommen. Auch als Jekyll hat er auf der Bühne viele Berührungspunkte mit dem Tod bevor er am Ende selbst hingerichtet wird.
Beim Schlussapplaus kommt dann aber wieder das fröhliche Naturel des sympathischen Norwegers zutage. Sorgt er doch für das gepflegte Chaos beim Verbeugen des Ensembles, mit dem er schon so manchen Stagemanager ins Schwitzen gebracht hat!
Das Publikum nahm die Wiederaufnahme-Vorstellung mit großer Begeisterung und stehenden Ovationen auf. Es ist davon auszugehen, dass sich dies im Laufe der Spielzeit auch nicht ändern wird. Denn die Bad Hersfelder Inszenierung schürt tiefe Emotionen und gibt dem „betagten“ Musical einen unvergleichlichen Rahmen.
Einen exzellenten Eindruck von der Open Air Aufführung in der Stiftsruine bekommt man auf der kürzlich erschienenen CD, die eine Live-Aufnahme aus dem Juli 2002 enthält. Die Protagonisten sind identisch mit den diesjährigen Darstellern. Die Orchestrierung ist eindrucksvoll und ergänzt die hervorragenden Stimmen der Hauptdarsteller auf sehr harmonische Weise.
Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical
Premiere: Juli 2003
Darsteller: Yngve Gasoy-Romdal, Nigel David Casey, Anna Montanaro
Musik: Andrew Lloyd Webber
Fotos: Bad Hersfelder Festspiele