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Thirteen Days

English review

In London werden nicht nur Smash Hit Musicals, Broadway-Erfolge und Musical-Weltpremieren gefeiert. London hat auch eine sehr lebendige und vielseitige Off-West-End-Szene. Produktionen, die in diesem Fringe-Rahmen aufgeführt werden, bestechen zumeist durch vielschichtige Handlungen und anspruchsvolle Kompositionen. Nicht selten findet man echte musikalische Rohdiamanten unter diesen Stücken.

Beliebte Spielstätten hierfür sind das Bridewell Theatre, The Vault des Southwark Playhouse oder auch das Arcola Theatre. Diese Theater eint nicht nur, dass Otto-Normal-West-End-Besucher sie sicherlich nicht findet, sondern auch, dass das Publikum durch die Anordnung der Sitzreihen um die Bühne herum, sehr dicht am Geschehen dran ist.

Nicht zum ersten Mal eröffnete sich nun für Alexander S. Bermange die Chance, eines seiner Stücke in solch intimen Rahmen zu präsentieren: Am 7. September 2012 feierte das Musical „Thirteen Days“ im Arcola Theatre Tent seine London-Premiere.

Den historischen Rahmen bildet die Kubakrise von 1962, während der die Handlungen dreier Staatschefs (USA, Kuba, Sowjetunion) über den Beginn eines Atomkriegs entschieden. Doch Alexander Bermange hat die bekannte Historie nicht einfach musikalisch aufgearbeitet, sondern das Leben von drei Menschen in den dramatischen Kontext eingebunden: das kubanische Mädchen Valentina, verlobt mit dem sowjetischen Waffen-Ingenieur Andrei, verliebt sich in den US-amerikanischen Spion Jim. Dieser erwidert ihre Liebe bis Andrei – von Eifersucht getrieben – sein wahres ich aufdeckt und Valentina dadurch in tiefe Verzweiflung stürzt. Kann sie einen Mann lieben, dessen Vater ihren Vater verraten hat? Kann sie mit einem Mann verlobt sein, der ihr Land dem Kräftemessen zwischen den USA und der Sowjetunion ohne Rücksicht opfert?

Am Ende entscheidet sie sich – motiviert durch die Traditionen und Denkweisen des eigenen Landes – gegen die Liebe über Grenzen hinweg. Diese sehr rationale Entscheidung widerspricht jedem echten Gefühl, scheint aber aufgrund der Umstände nachvollziehbar. Doch bleibt die Frage im Raum: Hätte es für Valentina und Jim nicht doch eine Chance gegeben?

In 27 sehr abwechslungsreichen Songs entwickelt Bermange die Handlung für das 15-köpfige Ensemble. Balladen mit Gänsehautfaktor wechseln sich mit schmissigen Uptempo-Nummern ab, verschiedene stilistische Elemente unterstreichen den landestypischen Hintergrund – mal kubanisch schwungvoll, mit russischem Staccato oder poppig amerikanisch. Bermange zeigt hier eine Vielseitigkeit wie in wenigen Stücken zuvor.

Auch der typische Sprechgesang, den Bermange gern in seinen Comedy-Songs einsetzt, fehlt in „Thirteen Days“ nicht. Hier setzt er damit gedankliche Kontrapunkte in Duetten. Eine Herausforderung für die Sänger bleiben diese temporeichen Sequenzen aber allemal.

Die Geschichte von Valentina, Andrei und Jim entwickelt sich im ersten Akt sehr schnell. Während zu Beginn noch die Verlobung von Valentina und Andrei gefeiert wird („Unite“ geht nicht nur ins Ohr, sondern auch unweigerlich in die Beine), rückt der drohende Krieg mit der Aufrüstung durch die Sowjetunion näher (beklemmend intensiv: „Missiles“). Das Wiedersehen und die erneut aufflammende Zuneigung von Valentina und Jim wird durch einige schöne Balladen umschrieben („The Chapel“, „Anyone but you“), wobei insbesondere Valentinas Gefühlsachterbahn, Jims ehrliche Abkehr von seiner ursprünglichen Spionagemission und Andreis Eifersucht gut miteinander verwoben werden. Parallel hält Kennedy seine bekannte Rede an die Nation (die sparsam aber effektiv eingesetzte Videoprojektion machen diese Szene noch eindringlicher).

„Long live tomorrow“ ist eine gelungene Finale-Nummer, bei der das komplette Ensemble – aufgeteilt in drei nationale Gruppen und angeführt von den jeweiligen Staatschefs und einem der drei Liebenden – seine Angst vor dem drohenden Krieg zum Ausdruck bringt. Sowohl die musikalische als auch die choreographische Anordnung dieses Songs sind ideal umgesetzt.

Im zweiten Akt stehen die Verhandlungen zwischen Kennedy und Chruschtschow im Vordergrund. Die schweren Entscheidungen, die Verhandlungsmöglichkeiten, die Risiken, mit denen die beiden Präsidenten der Supermächte USA und UdSSR konfrontiert sind, werden in Soli im Schatten des jeweils anderen oder wortgewandten Duetten dargeboten. Das Staging ist perfekt gelöst und verdeutlicht die unterschiedlichen Machtverhältnisse sehr gut.

Doch die finale Entscheidung von Valentina und die verletzten Gefühle von Jim und Andrei finden im zweiten Akt ebenso ihren Raum.

„Thirteen Days“ endet mit einem Happy End für die Welt, die so knapp wie nie zuvor und nie mehr danach an einem Atomschlag vorbeigeschrammt ist und einer Tragödie für drei junge Menschen, die ihre Liebe füreinander (in welcher Konstellation auch immer) ihrem Nationalgefühl unterordnen und lieber unglücklich im „richtigen“ Land leben, als glücklich in einen potentiellen Staatsfeind verliebt zu sein.

Zum ersten Mal geht man nicht gut gelaunt und fröhlich pfeifend aus einem Bermange-Stück, sondern ist voller Gedanken, nicht nur wegen des historischen Hintergrunds der Handlung, sondern auch, weil sich Fragen wie „Was wäre gewesen, wenn…?“ in Bezug auf Valentina, Andrei und Jim nicht vermeiden lassen.

Dass man sich mit dem Schicksal der drei Protagonisten so auseinandersetzt, liegt nicht zuletzt an der Regie von Matthew Gould, dem es gelingt, seinen Darstellern eine sehr menschliche Seite zu verleihen. Valentina, Jim und auch Andrei sind die netten Leute von nebenan, mit denen man gern befreundet wäre. Die Besetzung dieser drei Figuren war sicherlich nicht einfach, doch mit Melissa Moore als Valentina, Grant Neal als Jim und Nadim Naaman als Andrei wurden drei Darsteller engagiert, die ihren Charakteren Sanftheit und Stärke gleichermaßen verleihen und die verschiedenen Emotionen sehr authentisch transportieren.

Auch bei der Wahl der drei Staatschefs – Kennedy, Chruschtschow und Castro – hatte den Kreativteam eine glückliche Hand: Steven Sparling kommt als Kennedy staatsmännisch und souverän über die Rampe, Anthony Cable wirkt entschlossen und bedrohlich als Chruschtschow und Richard de Winter komplettiert das politische Trio als egozentrischer Castro.

Die neun Ensemble-Mitglieder schlüpfen in verschiedene Rollen auf amerikanischer, kubanischer oder russischer Seite. Kleine kostümseitige Kniffe sowie veränderte Mimik und Gestik verdeutlichen die verschiedenen Seiten nachdrücklich.

Gesanglich fordert Bermange von seinen Sängern sowohl gefühlvolle, leise Töne als auch kraftvolle, energische Klänge – alle sechs Hauptdarsteller bedienen diese Klaviatur sehr gut. Die vierköpfige Band unter der Leitung von Alexander Bermange macht es ihnen jedoch nicht immer leicht, sich ohne Mikrofone durchzusetzen, doch im Großen und Ganzen – und vor allem in den Ensemble-Stücken – funktioniert das Zusammenspiel. Für eine Wiederaufnahme würde ich mir jedoch wünschen, dass zumindest die sechs Solisten mit Mikros ausgestattet werden, damit man auch die ganz sanften Melodien hört.

Die im Arcola Theatre Zelt erzeugte Nähe bildet gerade bei einem Stück von dieser historischen und emotionalen Tiefe den perfekten Rahmen: Das Publikum umrahmt die Bühne von drei Seiten, im Hintergrund begrenzt durch eine weiße Wand, die durch verschiedene Videoprojektionen (Ben Rogers) auf dem Boden und der Rückwand zum Leben erweckt werden.

Man wünscht sich, dass es für Musicals, die mit soviel Feingefühl geschrieben und inszeniert werden, ein größeres Publikum gibt – denn Potential für einen großartigen Musicalabend bietet „Thirteen Days“ reichlich. Thematische Querbezüge zu „Miss Saigon“ oder ähnlich dramatischen Stücken, denen nationale Differenzen zugrunde liegen, kommen nicht von ungefähr. Doch Alexander Bermange ist weit davon entfernt, vorhandenes Material zu kopieren und schafft mit seinem Buch sowie seinen Kompositionen zu „Thirteen Days“ eine neue, sehr gefühlvolle Annäherung an diesen komplexen Stoff.

Michaela Flint

Theater: Arcola Theatre Tent, London
Premiere: 7. September 2012
Darsteller: Melissa Moore, Nadim Naaman, Grant Neal
Buch, Musik & Text: Alexander S. Bermange
Fotos: Francis Loney