Dem English Theatre in Frankfurt gelingt es immer wieder für seine Inszenierungen erfahrene West End Darsteller an den Main zu holen. Da bildet auch „Sweeney Todd“ keine Ausnahme. Stephen Sondheims wohl auch dank des Films mit Johnny Depp, Helena Bonham Carter und Alan Rickman (2007) bekanntestes Werk ist ohnehin keine leichte Kost und ihre Akzeptanz steht und fällt mit den Hauptdarstellern.
Krankheitsbedingt musste die Premiere „zweigeteilt“ werden, da am eigentlichen Premierenabend Sarah Ingram als Mrs. Lovett im ersten Akt ihre Stimme verlor (die Zweitbesetzung konnte noch nicht übernehmen) und somit die Erstaufführung drei Tage später mit Samanthey Ivey als Leading Lady nachgeholt wurde. Der Start in diese Jubiläumsspielzeit (das English Theatre feiert sein 40-jähriges Bestehen) ist von vielen Ausfällen überschattet. Auch bei Matt Bateman (Pirelli) war es bis einen Tag vor der Premiere nicht klar, ob er die Show würde durchspielen können, und bei der „Nachholpremiere“ verletzte sich Hauptdarsteller Stephen John Davis und bestritt den 2. Akt humpelnd mit einem verletzten Knie.
Doch all dies schmälert den wieder einmal sehr gelungenen Gesamteindruck nicht im Geringsten: Rachel Stone hat ein gelungenes Umfeld geschaffen, in dem in einem Haus bis zu sechs Spielebenen möglich sind. Nackte Kupferrohre ragen aus der Decke, das Dach ist teilweise zerstört, die Wände von Pub und Barber Shop sind in die Jahre gekommen und farblich in den 1970ern stehengeblieben. Das ist jedoch mehr als passend, denn „Sweeney Todd“ erlebte seine Uraufführung 1979 – ebenfalls vor 40 Jahren.
Entsprechend sind auch die Kostüme (Olivia Ward) etwas altmodisch: zu kurze Hosenbeine, grobe Stiefel zu Kleidern und zu breite Krawatten sind allgegenwärtig. Clever ist es jedoch, Mrs. Lovett im zweiten Akt ein Kleid aus demselben Leder zu schneidern, wie ihre Hose im ersten Akt. Der Unterschied ist nicht groß, aber verfehlt seine Wirkung nicht.
Als besonderes Highlight können sich die Zuschauer sogenannte „bloody seats“ – wahlweise direkt auf der Bühne, als Gäste in Mrs. Lovetts Pie Shop, oder in der ersten Reihe – buchen. Blutabweisende Umhänge gibt es auf diesen Plätzen kostenlos dazu. Hier werden hohe Erwartungen an ein Splattermusical geschürt…
Sondheims teils verstörende Kompositionen klingen schon in der Ouvertüre an. Die vier Musiker (2 x Percussion, 2 x Keyboard) unter der Leitung von Matt Ramplin (sonst beim „Starlight Expresss“ am Taktstock) spielen schräg, laut und intensiv. Dazu passt Sweeneys Verbitterung und Verletztheit ob des Todes seiner Frau und dem Verschwinden seiner Tochter ganz ausgezeichnet.
Derek Anderson legt in seiner Regie großen Wert darauf, dass die Agierenden auf der Bühne trotz der morbiden Handlung nahbar bleiben. Seine Erfahrung mit dem Stück, welches er 2015 für das Twickenham Theatre im Off-West End inszenierte, kommt ihm hier sehr zugute. In London hat er bereits ebenfalls mit Matt Ramplin zusammengearbeitet. Dieses eingespielte Team zieht alle Register und lässt das Publikum vergessen, dass es im verregneten Frankfurt sitzt und nicht in London.
Mrs. Lovett (Ingram) ist ein Original. Sie ist energisch, ausnehmend erfinderisch und geschäftstüchtig. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, offenbart mütterliche Gefühle gegenüber Tobey und zeigt auch ihre Zuneigung zu Sweeney sehr deutlich.
Sie weiß genau, dass Sweeney Todd eigentlich Benjamin Barker ist. Sie weiß aber leider auch, dass dessen Frau nicht tot ist und dass dessen Tochter Joana von Judge Turpin in Obhut genommen wurde. Als sie Barker / Todd seine Rasierklingen wiedergibt, ist allen klar, dass hier eine besondere Bindung besteht.
Ingram spielt sehr einschüchternd und mit einem wundervollen Cockney-Akzent. Dass sie auch stimmlich über ein beeindruckendes Spektrum verfügt, zeigt sich nicht zuletzt beim Finale des ersten Akts („A little priest“), währenddessen die beiden ihren Meat Pie Plan auf unnachahmlich lustige Art visualisieren. Doch auch dem Publikum ist nicht verborgen geblieben, dass Ingram viel gehustet und immer wieder etwas getrunken hat. Da war die Absage des 2. Akts am Premierenabend nur konsequent.
Samantha Ivey legt die resolute Pie Shop Inhaberin etwas weicher und verletzlicher an. Ihr fehlt der Cockney Akzent und sie singt „zu schön und schnörkellos“. Dies passt aber gerade in Songs wie „By the sea“ und „Not while I’m around” ganz hervorragend.
Lucy Warway spielt Tobey, den Handlanger von Todds erstem Opfer, dem betrügerischen Taschenspieler Pirelli. Ein Mädchen in dieser Rolle zu sehen, ist ungewöhnlich, funktioniert aber erstaunlich gut. Einzig „Not while I’m around” vermag ihr nicht so recht zu gelingen, da sie es zu hart intoniert und die mit diesem Song eigentlich verbundenen Gefühle (Beschützer von Mrs. Lovett, Skepsis gegenüber Todd) so im Keim ersticken.
Als fieser Richter Turpin, der in seinem Mündel Joana plötzlich die Frau erkennt, die er zu ehelichen gedenkt, steht David Pendlebury auf der Bühne. Er ist unbestreitbar zielstrebig, weiß genau, was er will (Joana) und was er nicht will (Todd). Dass er mit Sondheim anspruchsvollen Kompositionen gut zurechtkommt, stellt er mehrfach unter Beweis. Eindrucksvoll bleibt die Selbstkasteiung „Mea culpa“ in Erinnerung.
Joana, die von Turpin und Anthony gleichermaßen – wenn auch aus komplett unterschiedlichen Motiven („Kiss me“) – angebetete Tochter von Todd wird von der zauberhaften Aliza Vakil gegeben. Schon während ihrer Ausbildung hat sie sich zu einer Art „Sondheim-Expertin“ entwickelt und wendet dieses Wissen nun in ihrem Engagement vortrefflich an. Ihr glockenklarer Sopran überstrahlt alles und man fühlt sehr mit ihr mit.
Im Mittelpunkt des Abends steht jedoch ein bestechend spielender Stephen John Davis. Sein Sweeney Todd ist nicht einfach ein mordlüsterner Barbier. Er ist tief verletzt, vermisst seine Frau Lucy und setzt alles daran, seine Tochter Joana aus den Fängen von Turpin zu befreien. Dabei übersieht er, dass er in Mrs. Lovett mehr als nur eine Verbündete hat. Davis spielt die besessenen Momente genauso glaubwürdig wie die ruhigen, gefühlvollen. In den zahlreichen Duetten setzt er sich regelmäßig gegen seine Bühnenkollegen durch (bspw. „Pretty Women“). Beinah zwangsläufig folgt man eher Todd als Turpin, Pirelli oder Lovett. „The closest shave you’ll ever know“ jagt einem – nicht zuletzt wegen Davis‘ ausdrucksstarker Mimik – Gänsehaut-Schauer über den Rücken.
Natürlich trägt auch das herumspritzende Theaterblut maßgeblich zum Gruselfaktor dieses Stücks bei. Die zahlreichen aufgeschlitzten Kehlen von Todds Kundschaft versprühen ihr Innerstes höchst effektvoll. Glücklicherweise wird hier eine andere Blutmischung benutzt als normalerweise im Theater üblich: Diese hier soll sich problemlos auswaschen lassen, wenn doch etwas durch die Umhänge durchdringt.
Vom Splattermusical ist man jedoch weit entfernt. Dass die Kupferrohre tatsächlich nur Dekoration bleiben und keinen weiteren Zweck erfüllen, ist schade.
Als Joana am Ende einerseits miterlebt, wie Todd (von dem sie nicht weiß, dass er ihr Vater ist) Turpin kaltblütig ermordet und fliehen will, Todd seine Tochter aber durch ihre Verkleidung als Junge nicht erkennt, Mrs. Lovett andererseits von Todd in ihren eigenen Ofen geworfen wird als dieser feststellt, das sie ihm die Wahrheit über die inzwischen von ihm selbst getötete Lucy vorenthalten hat, und schlussendlich auch noch Tobey den Todd von Mrs. Lovett rächt und Todd die Kehle durchschneidet, ist die Erlösung für Todd alias Barker für alle im Publikum greifbar.
Das Jubiläumsjahr des English Theatre steht unter dem Motto „Flirting with Madness“. „Sweeney Todd“ ist ein Musical, das eindeutig hervorragend hierzu passt und in der aktuellen Inszenierung, die (wie schon „Cabaret“ im letzten Jahr) im kommenden Frühjahr auch im Deutschen Theater in München gezeigt werden wird, dem höchstprofessionellen Anspruch dieses kleinen „Nischentheaters“ mehr als gerecht wird.
Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin
Premiere: 2. November 2019
Regie / Musik: Derek Anderson / Stephen Sondheim
Fotos: English Theatre / Kaufhold