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So amerikanisch wie ein Hamburger

36 Jahre nach dem ersten Oscar-dekorierten „Rocky“-Film und sieben Jahre nach den ersten Gesprächen feiert die Musicalversion des Boxer-Epos in Hamburg Weltpremiere.

Aber Moment mal… Fäuste schwingende Boxer, blutige Kämpfe ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit, ein von Gangstern geprägtes Milieu in Philadelphia – wie bringt man das zusammen mit einer musikalischen, gute Laune erzeugenden Bühnenkunstform? Das war die größte Herausforderung, der sich das Kreativteam stellen musste.

Doch Thomas Meehan (Buch), Stephen Flaherty (Musik), Wolfgang Adenberg (Songtexte), Ruth Deny (Dialoge) und nicht zuletzt Christopher Barreca (Set Design) ist es nicht nur gelungen, sämtliche Vorurteile gegenüber singenden Boxern im Keim zu ersticken, sondern sie haben ein Musical geschaffen, das die Gratwanderung zwischen Menschlichkeit und Kampfsport spielend meistert.

Der Trick ist so einfach wie effektiv: Man gibt beiden Facetten ausreichend Raum und bedient die Erwartungen von Musicalfans und Sportfreunden gleichermaßen. Regisseur Alex Timbers beweist viel Gespür für das richtige Maß an Emotionen und umschifft die Gefahr des Abdriftens in die belanglose Seichtigkeit gekonnt.

Im ersten Akt lernt das Publikum Rocky Balboa kennen und bekommt viel Zeit, eine Beziehung zu dem glücklosen Boxer aufzubauen. Er ist sicherlich nicht die hellste Leuchte, gewinnt aber die Sympathien durch seine Aufrichtigkeit und sein großes Herz. Dem kann sich auch Adrian nicht verschließen. Es braucht zwar einen ziemlich unsanften Schups ihres Bruders Paulie, aber dann weicht sie Rocky nicht mehr von der Seite und unterstützt ihn in seinem schwersten Kampf.

Die zweite Hälfte spielt fast ausschließlich am 1.1.1976 – dem Tag des Kampfes zwischen dem Italian Stallion Rocky Balboa und  dem Schwergewichtsweltmeister Apollo Creed. Die Zuschauer erleben wie aus Rockys Selbstzweifeln ein unbedingter Siegeswille wird. Dennoch verliert er den Kampf nach Punkten, geht aber als Held der Herzen aus dem Boxring.

Das Musical ist eine gelungene Kurzfassung des Films und setzt genau die richtigen Schwerpunkte. Auch ohne jede Szene des Hollywood-streifens zu kennen, kann man dem Geschehen folgen. Es gibt keine Inhaltssprünge und die Charaktere erliegen keinem der bei Adaptionen von Film zu Bühne so häufigen unerklärlichen Sinneswandel.

Dies ist vor allem dem Buch von Thomas Meehan zu verdanken, der bereits mit seinen Vorlagen zu „The Producers“ und „Hairspray“ gezeigt hat, dass es auch heutzutage noch neue, unterhaltsame und geistreiche Musicals gibt, die erfolgreich auf allen großen Bühnen gespielt werden.

Auch die deutschen Übersetzungen von Dialogen und Songtexten sind sehr gelungen. Das in den letzten Jahren sehr verbreitete BILD-Niveau mit schmerzhaften Reimen und aneinandergereihten Plattitüden oder lästigen Werbebotschaften ist kaum mehr auszumachen. Während einige Songzeilen etwas zu banal daher kommen, so jedoch zum nicht gerade ausgeprägten Intellekt der Hauptfigur passen („…duckt sich eine dunkle Ecke und macht sich ein Streichholz an…“ oder „…zerschunden bis zum kleinen Zeh, wie überfahren von einem LKW“), gibt es einige wunderschöne Stilblüten in den Dialogpassagen: Der despektierliche „Spaghetti Wallach“ ist noch sehr eindeutig. Bei Rockys Aussage: „Ich bin Rechtsausleger und werde keine linken Touren versuchen.“ muss man schon etwas nachdenken, um den Wortwitz nicht zu verpassen, da man ihn von jemandem der „zwei Monate gebraucht hat, um meine Spind-Kombination auswendig zu lernen“. nicht unbedingt erwartet. Dass Adrian an Thanksgiving den „Truthahn im Ofen“ hat und hier von Deny der sprichwörtliche „Braten in der Röhre“ nicht eingesetzt wurde, macht dankbar. Apollo Creeds Statement, dass Rocky „so amerikanisch wie ein Hamburger“ sei, ist beim gewählten Musicalstandort für die Weltpremiere auch wunderbar zweideutig interpretierbar.

Ein Running Gag ist Rockys „Die Nase hält noch“, was schon als Solo unfreiwillig komisch wirkt („… diese Nase ist genial, ist ja auch schon fast 30 Jahre alt…“). Da es aber immer wieder Reprisen davon gibt, gelangt das Stück – vor allem im finalen Boxkampf, in dem die Nase bricht – an die Grenze zur Persiflage.

Eine Besonderheit von „Rocky“ ist, dass man nach vielen Jahren mit Compilations-Shows und Wiederaufgüssen alter Musicals wieder einmal wirklich neue Melodien zu hören bekommt. Keine Aneinanderreihung von Welthits, sondern lupenreine, kreative und sehr gelungene Pop-Rock-Sounds, denen auch das obligatorische „Eye of the Tiger“ nichts anhaben kann. Wer Stephen Flahertys Kompositionen zu „Ragtime“ kennt, weiß, dass der Amerikaner ein Händchen für klangvolle, voluminöse Arrangements hat. Auch für „Rocky“ hat er sich einiges einfallen lassen und schafft eine harmonische Klangwelt, in der die aufblühenden Gefühle zwischen Rocky und Adrian („Mehr als nur ich und Du“ genauso ihren Platz finden wie Rockys Kampf mit sich und seinem Umfeld („Ich will wissen warum“, „Standzuhalten“). Mit viel Energie bedenkt Flaherty die Auftritte von Apollo Creed („Patriotisch“) sowie die druckvollen Ensemblenummern („Er fällt noch nicht“, „Dieser Mann“).

Der zweite Akt wird vom allgegenwärtigen „Eye of the Tiger“ dominiert. Dass dieses Stück erst im dritten Teil von „Rocky“ zum ersten Mal zu hören ist, während der erste Film von Bill Contis Kompositionen, u. a. der weltberühmten Fanfare, geprägt ist, kann getrost ignoriert werden. Denn die Art und Weise, wie der wohl bekannteste Hit von Survivor in die Handlung eingebunden wird, ist sehr gelungen: Die Choreographie, in der während Rockys heißer Trainingsphase bis zu 12 Rockys schattenboxend über die Bühne tänzeln, ist wunderbar. Kein Wunder, dass das Publikum genau diesen Hit als Zugabe einfordert und begeistert mitklatscht und tanzt.

Ein bisschen Pulver wird in der berühmten Treppenlauf-Szene verschossen: Anstatt Rocky oben auf der Treppe die bekannte Pose machen zu lassen, wird diese während seines Laufs gedreht, so dass er am Ende frontal zum Publikum steht. Dadurch verpufft die eindrucksvolle Wirkung dieser Szene leider gänzlich.

Szenisch herausragend sind die Trainings-Sessions im Schlachthaus und natürlich der mitten im Parkett ausgetragene Boxkampf.

Die Rinderhälften, auf die Rocky zu Trainingszwecken eindrischt, sehen erschreckend echt aus. Und wer sich vor dem Stück gefragt hat, warum die Boxringbeleuchtung über dem ersten Parkettdrittel angebracht ist, erhält die Antwort im zweiten Akt. Da werden kurzerhand zehn Reihen mit Zuschauern von ihren Sitzen auf die Bühne geleitet, wo sie auf einer Tribüne Platz nehmen. In dieser Zeit wird der Boxring, der während des ersten Akts als Wohnungsdecke, später auch als Leinwand zur Gegnerstudie fungiert, weit in den Zuschauerraum hineingefahren und von oben entrollen sich Leinwände, die den Kampf live zeigen. Näher dran am Geschehen ist man auch bei einem echten Boxkampf nicht! Eine tolle Idee, die ihre beeindruckende Wirkung beim Publikum nicht verfehlt und den Boxkampf so real wirken lässt, dass man bei den Schlägen, die die Kontrahenten sich verpassen, unweigerlich selbst in Deckung geht.

Dass solche technischen „Spielereien“, zu denen auch der Regen, der Schnee und der romantische Lauf auf der Eisbahn gehören, nicht ohne Tücken sind, bekommt viele Zuschauer in den Shows vor der Premiere zu spüren: Da bleiben die Rinderhälften einfach mal hängen, anstatt eindrucksvoll im Bühnenturm des Operettenhauses zu entschwinden, weil der Computer den Ablauf der weiteren Show aufgrund eines kleinen Fehlers gestoppt hat. Solche Kinderkrankheiten bekommt man in den Griff, keine Sorge. Auch der Kronleuchter des Phantoms stürzte vor 22 Jahren nicht immer und einwandfrei vom Theaterdecke…

Bei einem Stück, das so sehr auf die Titelfigur abgestellt ist wie „Rocky“, muss der Hauptdarsteller nicht nur gesangliche und sportliche Fähigkeiten mitbringen. Es muss ihm auch gelingen, mit seinem Schauspiel in der Rolle aufzugehen. Der US-Amerikaner Drew Sarich erfüllt diese Anforderungen schlichtweg zu 100 %. Er bringt soviel Sympathie und Authentizität über die Rampe, dass man Rocky einfach mögen muss. Die Naivität und Ehrlichkeit der italienischen Boxers nimmt man ihm in jeder Sekunde ab. Seine Ausdrucksweise und Bewegungen sind genauso perfekt wie der unterschwellige Frust und die wahre Liebe zu Adrian greifbar sind. Ob es allerdings auf Dauer gesund ist, in jeder Show rohe Eier zu trinken, darf bezweifelt werden. Aber zweifelsohne trägt auch diese Szene zu seiner Glaubwürdigkeit bei. Gesanglich verlangt „Rocky“ Drew Sarich zwar nicht alles ab, aber seine Soli präsentiert er stark, gefühlvoll und bleibt damit im Ohr.

Die schüchterne Adrian wird von der Holländerin Wietske van Tongeren gegeben. Den Bogen vom schüchternen, wortkargen Mädchen zur selbstbewussten, starken Frau an Rockys Seite spannt sie eindrucksvoll. Sie kreiert eine äußerst charmante Adrian, auch wenn es ihr hier und da an Tiefgang fehlt. Das mach sie jedoch doch ihre glänzende Leistung in ihren Soli und Duetten wieder wett.

Auch die weiteren Rollen sind sehr gut besetzt. Allen voran Terence Archie, der als Apollo Creed am Entstehungsprozess des Musicals von Beginn an dabei war und bei seinem Europa-Debüt eine mehr als gute Figur macht. Nicht nur optisch gibt er einen einschüchternden Gegner von Rocky, auch seine Songs bringt er mit seiner warmen Soul-Stimme nachhaltig zu Gehör.

Alex Avenell, Patrick Imhof, Uwe Dreves, Robin Brosch, Frank Logemann sind nur fünf der insgesamt 24 Darsteller, die in verschiedenen Rollen auf der Bühne stehen. Jeder hat seinen besonderen Moment und erreicht das Publikum.

Zu dem rundum gelungenen Showbesuch trägt auch das fast 20-köpfige Live-Orchester unter der bewährten Leitung von Bernhard Volk bei. Ein so enthusiastisch aufspielendes Orchester hat man lange nicht mehr erlebt und so bleibt nur, dies in vollen Zügen genießen. Pünktlich zur Premiere wurde auch das Album zu „Rocky“ fertig gestellt.

Der musicalische „Rocky“ vereint alles, was man von einem Boxmusical erwartet: Eine liebevoll arrangierte Handlung, einen herausragenden Hauptdarsteller, mitreißende Melodien, eine beeindruckende Bühnentechnik und Künstler in allen Bereichen, deren Spaß an ihrem Job sich auf das begeisterte Publikum überträgt.

Solche Weltpremieren bleiben allen im Gedächtnis und schüren das Verlangen nach mehr.

Michaela Flint

Theater: Operettenhaus, Hamburg
Premiere: 18. November 2012
Darsteller: Terence Archie, Drew Sarich, Wietske van Tongeren
Musik / Regie: Stephen Flaherty / Alex Timbers
Fotos: Stage Entertainment
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