Keiner von beiden hat jemals selbst eine der beiden Titelgebenden Rollen getanzt und so nähern sie sich dem Thema auf erfrischend kurzweilige, tänzerisch bewährt moderne und musikalisch unerwartete Weise. Musikalisch unerwartet, da das Publikum eben nicht nur intensive Rockklänge auf die Ohren bekommt, sondern mehr als die Hälfte der 24 Szenen mit klassischer Musik – jedoch nicht nur Sergei Prokofjews Kompositionen – unterlegt ist.
Zu Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ (Herbst) werden in einem sehr gelungenen Prolog die Akteure von William Shakespeares bekanntestem Werk einzeln namentlich vorgestellt. Das Publikum kann die Familien der Montagues und Capulets gut erkennen. Die Feindschaft wird durch den anschließenden Kampf zu „Carry on a wayward son“ (Kansas) nachdrücklich verdeutlicht.
Während der verträumte Romeo erneut zu Vivaldi über die Bühne tanzt, hat Julia ihr erstes Solo zu Prokofjews „Romeo & Julia, Op. 64, – Julia als junges Mädchen“. Der folgende Kostümball besticht vor allem durch die ausgefallenen, körperbetonenden Kostüme. Viel Phantasie braucht der Zuschauer nicht, um sich das Muskelspiel der Tänzer unter den eng anliegenden, knapp geschnittenen Hosen und Shirts vorzustellen. Damit bedient das Kreativteam die Erwartungen der vorrangig weiblichen Zuschauer und erntet den entsprechenden Applaus. Zu einer Mischung aus Vivaldi und David Guetta nimmt das Geschehen seinen Lauf und Romeo und Julia begegnen sich zum ersten Mal. Ihre aufblühende Liebe beginnt mit „Without you“ (Guetta / Usher) und endet in einem klassischen Pas de Deux zu dem durch diverse Filme und viele Konzerte bekannten „Adagio for Strings, Op 11a“ von Samuel Barber.
Sowohl Julias liebesschwangere Tagträume als auch Romeos Junggesellenparty rocken wieder das Haus („Teenage Dream“ (Katy Perry), „Party Rock Anthem“ (LMFAO)). Ruhiger wird es kurz als die Amme ihre Julia zu Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ (Winter) auf die bevorstehende Hochzeit vorbereitet. Die Inszenierung der Hochzeit ist durch Lichteffekte (schrittweise Lichtwechsel beleuchten die fortschreitende Eheschließung vor Pater Lorenzo) sehr gelungen und die Party endet mit Lady Gagas „Edge of Glory“.
Den Auftakt zum 2. Akt bildet der Kampf von Capulets und Montagues. Während die „Bad Boys of Dance“ zu „Greyhound“ (Swedish House Mafia) mit viel Energie über die Bühne wirbeln, ist Mercutios Ermordung und Tod zu Prokofjews „Romeo & Julia, Op. 64 – Mercutio stirbt“ zwar wunderschön anzuschauen, aber doch etwas langatmig.
Aus dem Zusammenhang gerissen wirkt Graf Paris Bemühen um Julia zu „Every breath you take“ (The Police), wohingegen Romeos Rache an Tybalt – erneut zu Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ (Sommer) – sehr intensiv ist und durch starke Gefühle punktet. Die Choreographien sind in diesen Szenen mehr als deutlich als Rasta Thomas‘ und Adrienne Canternas zu erkennen.
Erneut wundervoll harmonisch ist die Liebesnacht von Romeo und Julia zu Des‘rees „I‘m kissing you“, die Romeos Verbannung und Julias daraus resultierender Verzweiflung vorausgeht. Zur weltbekannten „Unchained Melody“ der Righteous Brothers nimmt Julia das Gift und stirbt vermeintlich. Durch Lichtkegel und kniende Tänzer in Mönchskutte wird die Familiengruft dargestellt, was sehr effektvoll ist.
Zu Prokofjews „Romeo & Julia, Op. 64“ wohnt der Zuschauer dem tragischen Ende der Geschichte bei: Romeo findet seine vermeintlich tote Geliebte in der Familiengruft, stößt auf Graf Paris, bringt ihn in seiner unbändigen Wut und Trauer um und nimmt sich dann selbst das Leben, Julia erwacht aus ihrem Todesschlaf, sieht ihren Romeo und Paris tot am Boden liegen und beendet ihr eigenes Leiden, indem sie sich ersticht.
Das letzte Wort, bzw. den letzten Tanz des Abends hat Benvolio, der zu „Welcome to the black parade“ (My Chemical Romance) den Trauerzug der Capulets und Montagues anführt.
Shakespeares zutiefst romantische Tragödie bietet viele Möglichkeiten, sich in Details zu verlieren, doch dem Kreativteam ist es gelungen, die Handlung kompakt umzusetzen und selbst, wenn man nicht jedes Details kennt, findet man sich im Stück jederzeit gut zurecht. Hier helfen auch die passend ausgewählten und sparsam animierten Videoprojektionen im Hintergrund, die die Szenen verdeutlichen und die Stimmungen der Protagonisten unterstreichen. Bspw. verwandelt sich Julias schönes, „plüschiges“ Barockschlafzimmer nach der Verbannung Romeos in einen dunklen, traurigen Raum ohne Dekorationen, in dem man sich weder wohl fühlt, noch gern aufhält.
Dass die „Bad Boys of Dance“ und ihre weiblichen Kolleginnen herausragend tanzen können, haben sie schon in der Vergangenheit eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Im Gegensatz zu ihren vorangegangenen Shows steht hier aber nicht die Gruppe im Mittelpunkt, sondern die Solisten. James Boyd ist ein exzellenter Romeo, kann romantische wie intensive Gefühle gleichermaßen körperlich beeindruckend umsetzen. Auch Mercutio und Tybalt, DJ Smart und Noah Gouldsmith, bestechen durch eine atemberaubende Körperbeherrschung und spielerische Intensität. Teneise Mitchell Ellis gibt eine sehr sympathische Amme und stiehlt Daniela Filippone als Julia fast die Show. Filippone ist eine sanfte Erscheinung, scheint aber nicht wirklich aus sich herauszukommen. Letztlich bleibt sie das schwächste Glied in der Kette. Selbst Jace Zeimantz als Pater Lorenzo und Nicholas Cunningham als Paris haben deutlich stärkere Momente auf der Bühne und bleiben im Gedächtnis.
Die Idee, klassische Stoffe in ein neues tänzerisches Gewand zu kleiden, ist nicht neu. Schaut man sich an, wo Rasta Thomas und Adrienne Canterna herkommen, bringen sie das gesamte Handwerkszeug mit, um diese Herausforderung zu meistern. Doch irgendwie überzeugt ihr neues Werk nicht gänzlich. Das mag an den teilweise sehr harten Übergängen von Klassik zu Rock/Pop liegen, evtl. auch an der nicht immer gelungenen Vermischung von klassischem Ballett und Modern Dance / Street Dance / Jazz Elementen. Das Publikum zollt den Tänzern für ihre Leistung jedoch durch minutenlange stehende Ovationen allerhöchsten Respekt und verlässt das Kampnagel Theater in angeregte Gespräche vertieft.
„Romeo and Juliet“ ist – wie es auf dem Plakat steht – a classic rock ballet. Führt man sich dies vor Augen kann man den Abend in vollem Umfang genießen, denn optisch, akustisch und auch emotional bedient das Stück eine große Bandbreite.
Michaela Flint
Weltpremiere: 3. September 2013
Darsteller: The Bad Boys of Dance
Regie / Choreographie: Rasta Thomas / Adrienne Canterna
Fotos: Manfred H. Vogel