Sollte man einen in sich stimmigen Broadwayerfolg, der noch keine 15 Jahre auf dem Buckel hat, überarbeiten und in unser neues Jahrhundert überführen? Die Antwort ist gar nicht so einfach… Natürlich beginnt die Geschichte in New York Ende 1989, und seitdem hat sich gerade dort viel getan. Aber die eigentliche Botschaft von „Rent“ ist zeitlos: „No day but today!“
Nichtsdestoweniger haben sich die Ambassador Theatre Group und Michael Brenner (BB Promotions) gedacht, dass eine Auffrischung der Show von Jonathan Larson nicht schaden würde und so entstand „Rent Remixed“, das am 15. Oktober seine West End Premiere feierte.
Die Regie übernahm William Baker, der sich in den letzten 13 Jahren vor allem für die Inszenierung von zahlreichen Kylie Minogue Shows und weiteren Popkonzerten einen Namen gemacht hat. Dieser Verbindung ist es wohl auch zu verdanken, dass Kylie Minogue als Stimme auf dem Anrufbeantworter (Marks Mutter, Alexi Darling) zu hören ist. Bei dem vorhandenen Popkonzert-Background von Baker war eine energiereiche und sehr moderne Inszenierung zu erwarten.
Diese Erwartung wurde mehr als erfüllt und zieht sich gleichermaßen durch alle weiteren kreativen Bereiche: Mark Bailey stellt die Darsteller in ein von weißen Mauern umrahmtes Set, in dessen Mitte ein Podest steht, der wahlweise als Loft von Mark und Roger fungiert, oder auch als Versammlungsstätte der AIDS-Selbsthilfegruppe. Eine Brücke überspannt die Bühne und ist durch eine Art Feuerleiter mit dem Bühnenboden verbunden. Nach oben führt eine weitere Leiter, die Angel nach seinem Tod hinaufsteigt.
Mit Kulissen wir sehr sparsam umgegangen, einige IKEA-Metallstühle, eine Chaise Longue, eine Metalltonne sowie eine Bar mit passenden Hockern müssen reichen, um die verschiedenen Szenenbilder zu kreieren.
Diese optische Sparsamkeit kann einer Show, in der die Charaktere im Mittelpunkt stehen nur gut tun. Angenehm, dass auch die Kostüme mit Ausnahme von Maureen und Angel nicht durch extreme Extravaganz auffallen. Perücken und ausgefallenes Make-Up fehlen gänzlich. Die Darsteller stehen in ganz normalen, heute aktuellen, Alltags- und im Fall von Joanne Büro-Outfits auf der Bühne. Das Publikum kann sich daher spielend mit den verschiedenen Figuren identifizieren.
Die spürbaren Änderungen fangen im Sound Design an… Kaum ein Song, der nicht so klingt, wie man ihn von Jonathan Larson gewohnt ist. Steve Anderson (Musical Supervisor), Sebastian Frost (Sound Design), Terry Ronald (Vocal Arranger) und Steve Hill (Musical Director) haben eine gänzlich neue Klangwelt für “Rent” erschaffen. Konnte man bisher mit Fug und Recht behaupten, „Rent“ sei ein Pop/Rockmusical ist es nunmehr ein Mischmasch aus den verschiedensten Stilrichtungen: Techno, Funk, Pop, Spheric und einiges so banal wie typischer Musical-Einheitsbrei. An dieser Arbeit kann man kaum ein gutes Haar lassen, aber dazu später im Einzelnen mehr. Denn auch Regisseur Baker und sein Associate Director Clive Paget hab sich jede Menge kreative Freiheiten genommen…
Der Ort des Geschehens ist nach wie vor New York, doch ist beispielsweise Mark englischen Ursprungs, wie der Anruf seiner Eltern verdeutlicht, die bedauern, dass er Weihnachten nicht im heimischen London verbringen kann. Ansonsten halten sich die befürchteten Bezüge zu London in Grenzen.
Die inszenatorischen Neuerungen beginnen schon mit dem Prolog, der nicht wie sonst „Seasons of Love“ ist, sondern mit „No day but today“ (= „Life Support“) beginnt. Das Publikum wird sofort in die Geschichte gezogen und das Geschehen nimmt seinen Lauf.
Mark (Oliver Thornton) teilt sich eine Wohnung mit dem ebenfalls arbeitslosen Musiker Roger (Luke Evans). Mark dokumentiert das Leben der beiden auf Video (mit einer modernen Digital-Kamera). Der sich telefonisch ankündigende Weihnachtsbesuch von Collins (Leon Lopez) bleibt zunächst aus, da Collins noch während des Telefonats von Straßenkids zusammengeschlagen wird. Doch dann taucht er zusammen mit Angel (Jay Webb) bei den beiden Künstlern auf und bereitet ihnen einen unvergesslichen Weihnachtsabend. Zuvor begegnet Roger jedoch Mimi (Ex-Sugababe Siobhan Donaghy), die ihn mit ihrem Flirt sofort einwickelt und damit in eine starke emotionale Krise reißt. Zwischendurch werden die beiden Bewohner noch von ihrem Vermieter und ehemaligen Mitbewohner Benny (Craig Stein) hinsichtlich der ausstehenden Miete erpresst: Sie sollen Maureens (Denise Van Outen) Protestveranstaltung verhindern. Die beiden denken gar nicht daran. Im Gegenteil, Mark hilft Maureen sogar noch, ihre Anlage einzurichten und trifft dabei auf Joanne (Francesca Jackson), Maureens Freundin, für die er von Maureen verlassen wurde.
Der erste Akt endet aber überraschenderweise nicht mit Maureens Protest „Over the moon“, sondern mit den „Christmas Bells“, die direkt im Anschluss an den „Tango Maureen“ gesungen werden. Diese szenischen Verschiebungen ziehen sich auch durch den zweiten Akt: Es gibt einen fließenden Übergang zwischen „La Vie Bohème“ und „Happy New Year“, Mark bekommt sein Engagement für seine Dokumentation von Maureens Protest erst im Januar, der gesungene Beziehungskrach „Take me or Leave me“ von Joanne und Maureen wird unabhängig von deren Verlobung statt, die in dieser Inszenierung gänzlich fehlt. Dafür bleibt man dem ursprünglichen Buch in vielen kleinen Details treu, beispielsweise, dass Benny den Entzug von Mimi bezahlt oder Mark das Angebot des TV-Senders ablehnt. Dennoch hinterlässt die Inszenierung bei denjenigen Besuchern, die „Rent“ bereits kennen, und das ist ganz sicher die Mehrheit im Publikum, einiges Unverständnis und Unmut über die Änderungen. Zum Publikum ist im übrigen anzumerken, dass weniger Touristen und „Rent“-Neulinge den Weg ins Duke of York’s Theatre fanden, sondern viel mehr lokales Publikum seinen Platz in dem 650 Plätze Haus einnahm, dass den ihm bekannten Szenen mal ergriffen, mal gespannt folgte.
Das 15-köpfige Ensemble legt sehr viel Energie in seinen Auftritt. Einige Szenen missraten durch die neue Inszenierung jedoch zu belanglosem Singsang. So verwandelt das neue Arrangement von „One Song Glory“, in dem Roger sein AZT nimmt und sich den einen letzten Song wünscht, bevor er – genau wie seine Freundin zuvor – stirbt, die Szene in ein Bad aus Selbstmitleid. Der Song hat jeglichen Rock verloren, und selbst wenn Luke Evans Erscheinung und Stimmbild zu einem Rocker sehr gut passen, verliert er sich vollständig in dieser sehr seichten Interpretation. Gleiches gilt für „Out tonight“, eine Szene, in der Mimi Roger um ein Date bittet. Die fetzige Rocknummer wurde doch tatsächlich mit einem Bigband-Sound hinterlegt, die weder zur Szene passt, noch der Stimme von Siobhan Donaghy sonderlich entgegenkommt. Erschwert wird die Glaubwürdigkeit dieser Passage dadurch, dass die ehemalige Popsängerin Donaghy über keinerlei Sexappeal verfügt. Während man ihr die abgemagerte drogensüchtige Mimi bedenkenlos abnimmt (wer sich über Magermodels auf dem Laufsteg beschwert, sollte auch mal auf eine Musicalbühne schauen), lässt sie es an den anderen Facetten der Figur missen. Kein Tiefgang, keine spürbare Liebe. Selbst die Finalszene, in der sie dem Tod von der Schippe springt, gerät durch ihre kaum vorhandenen schauspielerischen Fähigkeiten in die Reihe der Belanglosigkeiten. Dabei kann gerade diese Szene durch die richtige Intensität für ein unglaubliches Zusammengehörigkeitsgefühl und Gänsehautschauer sorgen.
Ähnlich blass bleibt auch Benny-Darsteller Craig Stein. Er wirkt sehr nervös und hibbelig. Das souveräne, ja manchmal auch bösartige, des Miete eintreibenden Vermieters geht ihm ab. Dafür entschädigt er aber mit einer unerwartet kraftvollen Stimme, die seine wenigen Gesangspassagen zu einem Erlebnis werden lassen.
Positiv fällt im ersten Akt der sehr viel aggressivere und sehr sexy umgesetzte „Tango Maureen“ von Mark von Joanne auf. Während Francesca Jackson alias Joanne im attraktiven Business-Outfit ihre Reize zur Schau stellt, reißt sich Mark die Kleider nahezu vom Leib und beide legen einen Tango hin, der seinesgleichen sucht.
Angels Auftritte sorgen im Publikum erfahrungsgemäß für großen Jubel, da er einer der größten Sympathieträger von „Rent“ ist. Jay Webb taucht in hautenger weißer Jeans, meist ohne Oberteil und mit kahlrasiertem Kopf auf. Auch an diesen Anblick muss man sich erst einmal gewöhnen, da Angel in dieser Präsentation seine weibliche Seite und sein Transvestiten-Dasein komplett verliert. Nichtsdestoweniger hat die Figur Angel in Bakers neuer Inszenierung die größte Entwicklung durchgemacht. Neben Kostümen, die an Hardcore- und Sado-Maso-Sex erinnern, passt auch die mal technolastige mal funky Neu-Arrangierung der Songs. Allerdings ist „Today for you“ als Techno-Hymne und „Contact“ als Funk-Nummer in Lack-Leder-Outfits für Otto-Normal-Musical-Besucher schon ziemlich schwere Kost. Dennoch bleibt auch der Angel des neuen Jahrtausends der Publikums-Liebling.
Leon Lopez steht als deutlich sanfterer Gegenpart von Angel auf der Bühne. Er spielt Collins rollendeckend, hat mit „I’ll cover you“ nach wie vor eine der schönsten Balladen des Stücks in seinem Repertoire. Seine warme Stimme passt perfekt zu dieser souligen Nummer, die zum Glück unverändert zu hören ist.
Denise Van Outen steigt in die Rolle der bisexuellen Maureen voll ein. Bei der Protestveranstaltung bezieht sie das Publikum mit ein, flirtet mit den Frauen in der ersten Reihe und bringt sie zum muhen. Ihr sexy Outfit und die langen Beine machen sie zu einer Lichtgestalt der Inszenierung. Stimmlich steht ihre sehr individuelle Interpretation von „Over the moon“ ihrer namhaften Vorgängerin Idina Menzel in nichts nach. Aber auch Maureen darf, wie Angel, etwas derber agieren und sich in eindeutigen Posen präsentieren, die einen manchmal kalt schlucken lassen. Das intensive Kräftemessen mit Francesca Jackson („Take me or leave me“ gewinnt die Blondine spielend, und doch schafft sie es, in den entsprechenden Szenen genug Tiefgang und Gefühl zu transportieren (bspw. an Angels Sterbebett).
Zu den bemerkenswerten Szenen gehört zweifelsohne auch „Halloween“ im 2. Akt. Während bei „La Vie Bohème“ noch das gesamte Ensemble energiegeladen und mit großer Spielfreude dabei ist, sorgt das softe, musicalesque Arrangement von Marks Solo „Halloween“ für eine kalte Dusche. Nichts ist mehr zu sehen oder zu spüren vom Zynismus und Sarkasmus, die Oliver Thortons Interpretation von Mark Cohen so neuartig und spannend gemacht haben. Genauso negativ fällt „Goodbye Love“ auf. Ursprünglich eine wundervolle, wenn auch anklagende, Ballade ruiniert das sphärische Arrangement von Steve Anderson die Intensität des Songs komplett. Wenn William Baker in einem Interview sagt, dass er keine E-Gitarren-Klänge mag und er mit seiner „Rent“-Inszenierung zeigen will, wie „Rent“ hätte sein sollen, kann man nur sagen: So sicherlich nicht! Es klingt als hätte man der Show die Luft ausgelassen.
Um die Eingangsfrage zu beantworten: Ja, es ist durchaus legitim auch jüngere Musicals zu überarbeiten und ihnen ein modernes Gesicht zu verpassen. In Sachen Optik und Anlage der Charaktere gelingt dies bei der neuen Londoner Inszenierung spielend und ohne Grund zur Beschwerde. Musikalisch sollte man aber vielleicht doch eher die Finger von Kompositionen lassen, die seit vielen Jahren erprobt und sehr beliebt sind. Der Besuch von „Rent Remixed“ im West End ist aber allein wegen der (mit einer Ausnahme) ausgezeichneten Darsteller einen Besuch wert: Eine sehr offenherzige Maureen, eine energische Joanne, ein von Selbstzweifeln zerfressener Roger, ein unerwartet attraktiver Mark, ein(wenn auch etwas zu) sympathischer Benny, ein liebevoller „Ersatz“vater Collins und ein spannender, sehr anziehender Angel entschädigen durchaus für eine sehr blasse und charakterlose Mimi.
Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical
Theater: Duke of York‘s Theatre, London
Besuchte Vorstellung: September 2007
Darsteller: Luke Evans, Leon Lopez, Denise van Outen, Oliver Thornton, Jay Webb
Regie / Musik: William Baker / Jonathan Larson
Fotos: Tristram Kenton