home 2018 Musikalisch disharmonisch & mit hervorragenden Protagonisten – Leonard Bernstein wäre zufrieden

Musikalisch disharmonisch & mit hervorragenden Protagonisten – Leonard Bernstein wäre zufrieden

Der Prolog, in dem sich die verfeindeten Jets und Sharks tänzerisch und kämpferisch messen, zeigt alles auf, was Leonard Bernsteins Klassiker so berühmt gemacht hat: Disharmonische, aggressiv-mitreißende Kompositionen, raumgreifende, teils verstörende Choreographien (bei der Broadway-Premiere im Jahr 1957 von Jerome Robbins) wecken die Spannung auf das, was da noch kommen mag.

Auf der Clingenburg zeichnet Timo Radünz nach „Cabaret“ (2017) auch in diesem Jahr für die Choreographien des Festspielmusicals verantwortlich. Er orientiert sich stark an Robbins’ Vorlage und der Wiedererkennungswert ist hoch. Leider scheinen diese Schrittabfolgen für das Ensemble jedoch mehrheitlich zu anspruchsvoll, denn asynchrone Choreographien, verspätete Einsätze oder unsauber getanzte Figuren ziehen sich wie ein roter Faden durch den Abend.

Die Bühne (Marcel Krohn, der auch Regie führte) ist kompakter als in den Vorjahren. Es gibt drei Spielebenen (Doc’s Drugstore, das Brautmodengeschäft, in dem Maria und Anita arbeiten und die Hauptbühne), die durch einige wenige Großkulissen, wie bspw. ein rollendes Geländer oder Bauzäune, Veränderung erfahren. Die Kostüme (Evelyn Straulino) passen perfekt in die 1950er Jahre, in denen die Handlung angesiedelt ist. Einzig bei den Perücken von Doc und einer „blondgefärbten Puerto-Ricanerin“ wäre mehr Liebe zum Detail wünschenswert gewesen.

Das unerwartet große, 15-köpfige Orchester unter der Leitung von Philip Tillotson verschwindet im Gegensatz zu früheren Produktion komplett hinter einer Wand mit der New Yorker Skyline. Die Musiker erwecken Bernsteins voluminöse, teils symphonische Melodien zum Leben. Dass dies nicht gänzlich ohne Zuspielen weiterer Instrumente vom Band gelingt, ist mehrfach gut hörbar. Doch der Gesamteindruck ist sehr überzeugend.

Einen weniger guten Abend haben Ton- und Lichttechnik. Mehrfach sind Mikros „offen“, wenn sie eigentlich „zu“ sein sollten. Man möchte die Darsteller nach dem Tanzen weder lautstark schnaufen hören, noch deren Gespräche backstage. Auch dass phasenweise eine nicht unerhebliche Zahl von Mikros ausfällt und die Künstler danach (auch über die Pause hinaus) so klingen als säßen sie in einer Tonne, zeugt nicht gerade von der Qualität der eingesetzten Technik. Auch die Lichttechniker verpassen mehrfach ihre Einsätze, obwohl diese nicht selten für das Publikum hörbar über Walkie Talkies zu hören sind. So etwas ist schade und trübt den Genuss doch nachhaltig.

Was man Intendant Marcel Krohn und seinem Team zugutehalten muss, ist ihr Händchen für eine absolut gelungene Besetzung der Hauptrollen, auch wenn zumindest Riff (Alexander Ruttig) und Tony (Gevorg Apérants) etwas zu alt wirken.

Maria (Theano Makariou), Tony (G. Apérants), Anita (Lucia Isabel Haas Muñoz) und Bernardo (Mario Saccoccio) verkörpern ihre Rollen in jeder Sekunde zu 100% überzeugend. Die Ausflüge ins Spanische von Maria und Anita klingen nicht nur authentisch, im Fall von Anita sind sie es auch, denn die in Ecuador geborene und in Mexiko aufgewachsene Schauspielerin zeigt ihr Feuer und ihre Leidenschaft nicht nur verbal. Rassig hält sie ihrem „Nardo“ den Spiegel vor oder zieht Rosalia auf, die so gern wieder zurück nach Puerto Rico möchte („Amerika“). Haas Muñoz mit all ihrer Leidenschaft zuzuschauen, die sie sowohl gesanglich als auch tänzerisch, mimisch und gestisch zum Ausdruck bringt, ist eine wahre Pracht.

Makariou klingt, obgleich Zypriotin, ebenfalls sehr authentisch und spielt liebenswert und selbstbewusst. Ihr klassischer Sopran passt perfekt zu Maria und man spürt, dass sie diese Rolle nicht zum ersten Mal spielt. Gleiches gilt im Übrigen für Apérants. Auch er hat eine klassisch ausgebildete Stimme, die sich perfekt an Bernsteins Hits wie „Maria“ und „Tonight“ anpasst – inklusive Gänsehautschauer! Eine bessere Besetzung für Maria und Tony vermag man sich kaum vorzustellen.

Den Anführer der Sharks spielt Mario Saccoccio, der ihn düster und herrisch anlegt – genau so wie man sich einen frustrierten Bandenchef vorstellt, der in der neuen Umgebung nicht weiß, wo er mit sich hin soll und deshalb jeden provoziert, der ihm über den Weg läuft. Er hat eine gute Bühnenpräsenz und wirkt die ganze Zeit undurchschaubar.

Die Inszenierung hat gute und verwirrende Momente. Eine süße Idee ist das muntere Hüte-Wechsel-Spiel von Tony und Maria während ihrer fiktiven Hochzeit. Auch das erste „private“ Zusammentreffen ist – als Romeo & Julia Balkonszene – sehr treffend umgesetzt.

„Ich seh schön aus / I feel pretty“ ist wunderbar schrill und lustig – so wie eine Gruppe heranwachsender Damen eben sein kann.

Für Stirnrunzeln sorgt das etwas befremdliche Staging während Tonys Solo „Maria“, wo ihn Krohn quer über die Bühne, auf die obere Ebene und wieder zurück schickt. Der Sinn dahinter erschließt sich nicht.

Das Gerüst, auf dem Tony und Maria „Heut Nacht / Tonight“ beschwören, bringt unweigerlich die Erinnerung an „Titanic“ mit sich, wenn auch auf die ausgestreckten Arme verzichtet wurde.

Sehr intensiv inszeniert Krohn Ensemble-Nummern wie die Hinführung zu „Somewhere“ oder der Albtraum Marias, bei dem am Ende alle Bandenmitglieder beider Seiten tot sind. Auch die Vergewaltigung Anitas ist beklemmend inszeniert.

Die „West Side Story“ bei den Clingenburg Festspielen ist absolut sehenswert und ihre Hauptdarsteller sind herausragend. Makariou und Apérants glaubt man die Liebe zwischen ihren Alter Egos Maria und Tony sofort. Sie legen sehr viel Gefühl in ihre weltberühmten Songs und treffen so mitten ins Herz!

Man darf gespannt sein, was in Klingenberg 2019 passiert, wenn ein neuer Intendant die Zügel übernimmt.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Clingenburg Festspiele
Premiere: 16. Juni 2018
Darsteller: Theano Makariou, Gevorg Apérants, Alexander Ruttig, Lucia Isabel Haas Muñoz, Mario Saccoccio
Regie / Choreographie: Marcel Krohn / Timo Radünz
Fotos: Bjoern Friedrich