Während nebenan im Queen’s Theatre, seit April 2004 die Heimat von Boublils und Schönbergs Musicalmeisterwerk, die Umbauten auf Hochtouren laufen und die Fans sich ob der angekündigten modernisierten Fassung, die zur Wiedereröffnung gezeigt werden soll, die Köpfe heiß reden, wird quasi zur Überbrückung im Gielgud Theatre ein namhaft besetzte konzertante Bühnenfassung gezeigt.
Zu dem Ensemble, das vier Monate bis zur Wiederaufnahme im dann umbenannten Sondheim Theatre, allabendlich in Kostümen in einer atemberaubenden konzertanten Version zu erleben ist, gehören
- Alfie Boe / John Owen-Jones als Jean Valjean
- Michael Ball als Javert
- Carrie Hope Fletcher als Fantine
- Shan Ako als Éponine
- Matt Lucas als Thénardier
- Katy Secombe als Mme Thénardier
- Rob Houchen als Marius
- Lily Kerhoas als Cosette
- Bradley Jaden als Enjolras
- Earl Carpenter als The Bishop
Diese Cast ist eine bunte (und sehr gelungene) Mischung aus Stars der britischen Musicalszene, aktuellem Ensemble der letzten Londoner Produktion und TV-Stars.
Das Theater ist bis auf den letzten Platz gefüllt und schon bei den ersten opulenten Klängen der Ouvertüre applaudiert das Publikum begeistert. Das Setting für diese konzertante Fassung ist ungemein clever – setzt sie doch das Orchester in seiner vollen Pracht in Szene. Matthew Kinley hat hier gemeinsam mit seinem Licht-Techniker Andrew Christie ganze Arbeit geleistet. Die 26 Musiker sind kaskadenförmig auf 4 Etagen platziert und werden von Alfonso Casado Trigo, hoch über allen direkt vor dem Backdrop stehend, zu Höchstleistungen angetrieben. Auch nach dem Ende der Show leert sich das Theater nur zögerlich, da die Zuschauer keinen einzigen Ton dieses Orchesters verpassen wollte.
Über 50 Darstellerinnen und Darsteller füllen die Bühne bis auf den letzten Zentimeter. Zu den Auf- und Abgängen auf die Seitenbühnen kommt noch eine Öffnung mittig unterhalb des Orchesters hinzu, die sich u. a. prima als Zugang zu den Katakomben von Paris nutzen lässt.
Die gewohnten Farbwelten bei den Kostümen bleiben genauso erhalten wie die düstere Umgebung. Die Barrikaden werden durch große Querstreben mit Scheinwerfern effektvoll dargestellt. Ein rundum gelungenes Bühnendesign, das den Protagonisten ausreichend Raum lässt, ihre Figuren mit Leben zu füllen.
Das Marketing zielt ganz klar auf die Anziehungskraft der Stars ab – und so finden sich zahlreiche Fans von Alfie Boe, John Owen-Jones, Michael Ball und Matt Lucas in den vollen Zuschauerreihen. Jeder einzelne der oben genannten Künstler wird seinem Ruf mehr als gerecht!
In der besuchten Vorstellung wurde Jean Valjean von John Owen-Jones gespielt. Dass er 1998 der jüngste Darsteller war, der jemals die Hauptrolle übernahm, merkt man ihm nicht an. Auch 20 Jahre später besticht er mit seinem stattlichen Auftreten, seiner raumgreifenden Bühnenpräsenz und seiner beachtlichen stimmlichen Bandbreite. Scheinbar spielend schraubt er sich bei „Bring him Home“ in höchste Höhen und legt soviel Gefühl in sein Spiel, dass man Gänsehaut bekommt.
Michael Balls Beziehung zu „Les Misérables“ ist noch einige Jahre älter, hat er doch in der Uraufführung 1985 den Marius gespielt, was ihn über Nacht zum Publikumsliebling machte. Im „Staged Concert“ gibt er den von Valjean besessenen Inspector Javert. Bei allen Vorbehalten gegenüber einem lyrischen Tenor, der versucht in die Rolle eines Baritons zu schlüpfen, muss man Michael Ball zugestehen, dass er sich intensiv mit der Figur des Inspectors befasst hat. Er spielt starrsinnig und energisch, teilweise sogar recht angsteinflößend. Stimmlich bewegt er sich auf ungewohntem Terrain, welches er aber souverän meistert. Bei „Stars“ erklingt aber die bekannte, weiche und volle Stimme, was sehr gut zu diesem Song und der emotionalen Instabilität Javerts passt.
Matt Lucas und Katy Secombe sind als Thénardiers eine Erscheinung – und dass nicht nur optisch! Ihre Sprüche und Neckereien zwischen den eigentlichen Songs sind, wie die Engländer sagen würden, „hillarious“. Das Publikum krümmt sich vor Lachen, wenn ein Matt Lucas alles mit höchster Geringschätzung kommentiert oder Katy Secombe die Eskapaden ihres Gatten mit unnachahmlich komischer Mimik quittiert. Ein wunderbares Zitat von Lucas in diesem Zusammenhang: Songtext „This one’s a queer, but what can you do?“ Kommentar mit Augenzwinkern: „Oh, I would have one or two ideas what to do with him…”
Der “Little Britain” Star weiß genau, wie er sein Publikum bedient!
Weder Secombe noch Lucas sind besonders gute Sänger, aber ihre Rollen geben es her, dass man mit viel Improvisationstalent sehr erfolgreich von diesem Manko ablenken kann.
Eine ungewöhnlich junge Fantine erwartet das Publikum in Form von Carrie Hope Fletcher. Sie spielt mit viel Gefühl, setzt sich aber gleichzeitig beeindruckend gegen die Freier zu Wehr, die ihr als Prostituierte zusetzen. Ihr sanfter und zugleich voller Sopran trifft bei „I dreamed a dream“ zielsicher mitten ins Herz.
Die letztjährige „X Factor“ Teilnehmerin Shan Ako kann sich als Éponine nur schwer gegen ihre erfahreneren Kollegen behaupten. Ihre wunderbare Soulstimme gibt aber bei „On my own“ einen ungewöhnlichen Twist, der aber vom Publikum begeistert angenommen wird.
Rob Houchen gibt einen selbstbewussten Marius, der genau weiß, was bzw. wen er will. Es ist ungleich viel schwerer seine Performance neutral zu genießen, wenn derjenige mit auf der Bühne steht, der diese Rolle kreiert hat, doch Houchen ist keine hemmende Ehrfurcht anzumerken. Seine Verbitterung bei „Empty chairs at empty tables“ kriecht einem sehr unangenehm den Nacken hoch. Entsprechend begeistert ist das Publikum!
Die von Marius angehimmelte Cosette wird von Lily Kerhoas ganz zauberhaft gespielt. Ihr glockenklarer Sopran füllt das Gielgud Theatre bis in den letzten Winkel.
Bleibt noch Bradley Jaden als Studenten-Anführer Enjolras. Selten habe ich jemanden mit so viel Energie und Verbissenheit in dieser Rolle erlebt. Die Intensität seines Spiels ist greifbar, seine Stimme geht durch Mark und Bein. „One Day More“ gerät unter seiner Führung im wahrsten Sinn zu einer Hymne!
Konzertante Musicals sind immer etwas ganz Besonderes, allein schon da hier die Menschen auf der Bühne im Mittelpunkt stehen und weder Kulissen noch sonstige Effekte von ihnen ablenken. Bei „Les Misérables – The Staged Concert“ gelingt dies – nicht zuletzt wegen der herausragenden Cast – in Perfektion.
Ob die „neue“ Inszenierung die seit fast 35 Jahren anhaltende Begeisterung aufrechterhalten kann, bleibt abzuwarten. Wenn sich Mitte Dezember 2019 der Vorhang im Sondheim Theatre hebt, werden die Zuschauer die Produktion von James Powell und Laurence Connor sehen, die bereits anlässlich des 25-jährgen Jubiläums 2010 für drei Wochen im Barbican Centre zu sehen war. Man darf gespannt sein, wie langjährigen Fans die neue Version aufnehmen. Maßgebliche Bestandteile dieser neuen Fassung, wie die Backdrop-Projektionen, das Lichtdesign und auch die Regie-Arbeit, werden jedoch bereits sehr erfolgreich im Gielgud Theatre eingesetzt – die Zeichen stehen also gut für den „Neuanfang“.
Michaela Flint
Besuchte Vorstellung: 3. Oktober 2019
Regie / Musik: James Powell & Laurence Connor / Alain Boublil & Claude-Michel Schönberg