Grandioser Musicalstoff gesungen von hervorragenden Schauspielern – leider kein Genuss!
Die Verfilmung von „Les Misérables“ war lange überfällig. Am Casting für die weltbekannten Figuren Jean Valjean, Javert, Fantine, Eponine, Cosette, Thénardier und Mme Thénardier, Marius und Enjolras kann man kaum etwas aussetzen, denn es wurden durchweg sehr gute Schauspieler gewählt, die ihre tragischen Rollen überzeugend spielen. Würde es sich doch bloß nicht um eine Musical-Verfilmung handeln, bei der der Gesang zudem live am Filmset eingesungen wurde.
Der obligatorische Soundtrack zum Film gibt in 20 Highlight-Songs (inkl. dem eigens für die Verfilmung komponierten neuen Titel „Suddenly“) einen groben Abriss über das Geschehen von Victor Hugos „Elenden“. Jeder Protagonist hat die Chance in einem Solo zu glänzen. Schön wäre es, wenn außer Samantha Barks, Aaron Tveit und Eddie Redmayne, jemand diese Gelegenheit auch genutzt hätte.
Beim Anhören lässt es die Aufnahme an jeglichem Gefühl fehlen. Keine der wirklich tragischen Figuren erregt das Mitgefühl, das ihr zusteht. Einzig die Ensemblenummern lassen erahnen, warum „Les Misérables“ zu den Welt meist gespielten Musicals zählt.
Liegt es an der Art der Aufnahme? Oder ist der Grund in den mangelnden gesanglichen Fertigkeiten der Schauspieler zu suchen? Denkt man an Colm Wilkinson, Michael Ball, Patti LuPone und Frances Ruffelle bekommt man unweigerlich eine Gänsehaut – allein ob der Emotionen, die diese herausragenden Musicaldarsteller bei einer Studioaufnahme zu transportieren vermögen. Den Hollywood-Schauspielern gelingt dies leider nicht. Man kann ihnen jedoch nicht nachsagen, dass sie sich keine Mühe geben würden. Sicherlich haben alle viel geprobt, um sich die anspruchsvollen Kompositionen von Claude-Michel Schönberg anzueignen.
Die einzigen, die sich auf eine fundierte Musicalerfahrung berufen können sind Hugh Jackman, Samantha Barks und Aaron Tveit. Alle standen schon in verschiedenen Musicals in London und New York auf der Bühne und wissen, was es braucht, um überzeugend zu spielen und zu singen. Während Barks und Tveit ihre Rollen als Eponine und Enjolras souverän intonieren, scheint Hugh Jackman mit Jean Valjeans Songs phasenweise deutlich überfordert. Aber Jean Valjean ist nicht ohne Grund eine der schwierigsten Rollen für einen Musicaldarsteller, wird hierfür doch eine große stimmliche Bandbreite vorausgesetzt, über die Jackman nicht im gewünschten Ausmaß verfügt.
Amanda Seyfried und Helena Bonham Carter hatten in „Mamma Mia“ und „Sweeney Todd“ bereits das Vergnügen ihre gesanglichen Fähigkeiten zu beweisen. Im Hinblick auf „Les Misérables“ verkaufen sie sich jedoch – Gesangsausbildung hin oder her – eindeutig unter Wert. Weder vermag Seyfried das Liebliche und Süße von Cosette glaubhaft zu verkörpern, noch gelingt es Bonham Carter die durchaus vorhandenen Facetten der exzentrischen Mme Thénardier zu zeigen.
Russell Crowe steht mit seiner Rockband seit mehr als 30 Jahren auf der Bühne. Damit kann er die Energie und den unbedingten Willen von Inspektor Javert eindrucksvoll umsetzen. Hier jedoch von gutem Gesang zu sprechen, wäre vermessen. Crowe hat eine sehr spezielle Gesangsstimme, die ihn immer dann verlässt, wenn höhere Tonlagen gefordert sind.
Blutige Anfänger im Musicalfach sind Anne Hathaway, Eddie Redmayne und Sacha Baron Cohen. Während man Sacha Baron Cohen sein mangelndes Gesangstalent als schräger Wirt Thénardier noch nachsieht, sind Anne Hathaways Versuche, Fantines Leiden akustisch umzusetzen, einfach nur schmerzhaft für den Zuhörer. Gefühl sucht man vergebens und Intensität mit Gesang auszudrücken, heißt bei Weiten nicht, dass man die Worte herausschreit.
Eddie Redmayne stimmt hingegen versöhnlich. Denn mit dem richtigen Gesangslehrer kann man Emotionen in Songs legen und dennoch den richtigen Ton treffen. Sein Marius ist solide – auch wenn er sich nicht nachhaltig ins Gedächtnis singt.
Ein akustisches Déjà-Vu hat man beim Hören des Bischofs von Digne, der von dem „Les Misérables“-Veteran schlechthin, Colm Wilkinson, gegeben wird. Auch Frances Ruffelle, Eponine der ersten Stunde, ist als Prostituierte mit dabei, geht aber im Ensemblegesang unter.
Apropos Ensemble: Die unzähligen Sängerinnen und Sänger, die in den Chören zu hören sind, schaffen es zumindest zeitweilig, das richtige „Les Misérables“-Gefühl zu erzeugen (bsp. „ABC-Café / Red and Black“). Hier hat man gut daran getan, erfahrene West End- und Broadway-Darsteller zu engagieren.
Dass man sich seitens des Produktionsteams entschieden hat, die live am Set eingesungene Tonspur auch für den Soundtrack zu nutzen, kann nur als Fehlentscheidung gewertet werden. Häufig irritieren Nebengeräusche, von klarem Gesang kann kaum die Rede sein, da dieser dem zeitgleich stattfindenden intensiven Spiel untergeordnet wird. Da hilft auch die für den Soundtrack neu arrangierte, sehr gelungene Orchestrierung nicht. So mag Cameron Mackintosh im Booklet noch so begeistert von den neuen technischen Möglichkeiten zur Aufnahme von Live-Performances schwärmen – in diesem Fall überwiegt ein gedämpfter Gesamteindruck.
Michaela Flint