home 2007 Kreative Regie entstaubt den Klassiker

Kreative Regie entstaubt den Klassiker

Diesmal also in Lübeck. Zum x-ten Mal sterben die Studenten den Barrikadentod auf einer Stadttheaterbühne, zum x-ten Mal wurde versucht, einem Klassiker des Musicals neues Leben einzuhauchen, zum x-ten Mal gab ein mehr als 40-köpfiges Ensemble alles, um die Bühne vor Energie vibrieren zu lassen.

Nichts Neues also im Norden? Der gleiche langweilige Einheitsbrei wie bei allen Stadttheater-Inszenierungen zuvor? Nein, weit gefehlt! Alle kreativen Abteilungen des Lübecker Theaters machen aus ihren eher bescheidenen Möglichkeiten das Allerbeste.

So bilden zwei bewegliche Bühnenelemente links und rechts nicht nur den Rahmen für die großen Ensemblenummern, sondern verleihen der Bühne durch Drehen und Wenden ein immer wieder neues, zweckdienliches Gesicht: das ABC-Lokal lässt sich genauso gut vom Rest abtrennen wie das Wirtshaus der Thénardiers oder das Totenbett von Fantine.

Szenen wurden umarrangiert, ohne dass es merklich ins Gewicht fallen würde: Die Gerichtsszene beispielsweise, in der sich Jean Valjean Javert zu erkennen gibt, mutiert hier zu einem Monolog Valjeans. Andere Sequenzen wurden so phantastisch an die Bühne angepasst, dass selbst Kenner und Liebhaber der Londoner Originalproduktion ihren Hut ziehen. Dazu zählt der Selbstmord Javerts (der Darsteller geht in Richtung Hinterbühne und verschwindet dabei zusehends im Nebel, der aus dem herabgesenkten Bühnenboden aufsteigt) genauso wie die Kampfszenen auf den Barrikaden (das Publikum fühlt sich durch die auf sie anlegenden Soldaten direkt mitten im Geschehen). Auch „Dunkles Schweigen an den Tischen“ wurde durch die Masken tragenden Studenten im Hintergrund sehr viel gespenstischer und albtraumartiger als in so mancher Ensuite-Produktion.

Die Inszenierung von Wolf Widder ist also schon mal rundum gelungen. Aber wie so viele andere Bombast-Musicals steht und fällt auch „Les Misérables“ mit der Auswahl, Präsenz und Glaubwürdigkeit seiner Protagonisten.

Mit Thomas Christ hat man in Lübeck auf einen Künstler gesetzt, der den Sträfling Valjean mit viel Intensität und großer Leidensfähigkeit über die Rampe bringt. Sein Stimmumfang kommt bestens mit der anspruchsvollen Partitur zurecht, nicht einmal bei „Bring ihn Heim“ ist der kleinste Wackler zu hören – im Gegenteil!.

Sein Counterpart Javert wird vom Lübecker Publikumsliebling Steffen Kubach gespielt. Auch wenn dieser phasenweise durch sein Kostüm eher an einen Zirkusdirektor erinnert als an den gestrengen Polizisten. Diese unfreiwillige Komik wirkt sich auf Kubachs gesangliche Leistung zum Glück in keinster Weise aus. Seine schöne warme Stimme zeugt einmal mehr von der Wandlungsfähigkeit des Sängers – von Albin über Prof. Higgins und Molina bis hin zu Inspektor Javert – das schafft nicht jeder. Leider lässt Kubach es das ein oder andere Mal an der unabdingbaren Boshaftigkeit des Valjean-besessenen Inspektors vermissen.

Die Studenten Marius und Enjolras werden von Tomasz Dziecielski und Kai Bronisch gespielt. Bedauerlicherweise ist Bronisch dem sympathischen Polen nicht nur körperlich, sondenr auch stimmlich haushoch überlegen, so dass Marius’ Soli zwar schön anzuhören sind, aber blass bleiben, wohingegen das kraftvolle Revolutionslied von Enjolras noch lange nachklingt.

Die drei Damen, Simone Tschöke, Andrea Stadel und Katharina Schutza als Fantine, Cosette und Eponine lassen sich von ihren Kollegen an die Wand spielen. Tschöke Sticht weder in Spiel noch Gesang sonderlich aus der Mende der Statisterie und des großen Chors hervor. Eponines Showstopper ist hier nicht „Nur für mich“, sondern ihre sehr ergreifende Sterbeszene. Aber im Gegensatz zu Cosette taucht Eponine als eigenständiger Charakter auf, während Stadel ganz in ihrer Mäuschenrolle aufgeht und nahezu unsichtbar ist. Zudem fällt sie durch ihre sehr klassische Stimmfärbung eher negativ auf als positiv. Musical ist eben nicht Oper.

Bleiben noch die Thénardiers. Für jeden Darsteller sind die durchgeknallten Wirtsleute eine willkommene Abwechslung, da sie viel Raum für Improvisation bieten. Während Simone Mende optisch und akustisch fast noch zu lieb für die Schreckschraube Mme Thénardier ist, nutzt Manfred Ohnoutka das Potential der Rolle und macht sich die Bühne zu Eigen. Selbst wenn das Publikum nicht so mitgeht, wie in anderen Inszenierungen, ist ihm der Spaß in jeder Sekunde anzumerken.

Szenische Kniffe wie die Barrikade, die nach der Schlacht von den Überlebenden Frauen abgetragen wird oder die toten Studenten, die in der Masse der Trauernden zu verschwinden scheinen, wenn diese über die Bühne prozessieren, runden diese Inszenierung ab.

„Les Misérables“ in Lübeck ist eine kreative und frische Inszenierung der Boublil/Schönberg-Erfolgs und definitiv eine Reise in die Niederegger-Stadt wert!

Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical

Theater: Großes Theater, Lübeck
Premiere: September 2007
Darsteller: Kai Bronisch, Thomas Christ, Steffen Kubach
Musik / Buch: A. Boublil / C.-M. Schönberg
Fotos: Theater Lübeck

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