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Hamilton

Seit vier Jahren in New York und seit Dezember 2017 auch im West End „the hottest tickets“, mit zahllosen Preisen überschüttet, Kritiker ergehen sich in Superlativen – kann man sich als „Musicalmacher“ mehr wünschen?

Lin-Manuel Miranda, der schon 2007 mit „In the Heights“ ein erfolgreiches Hiphop-Musical an den Broadway brachte, gelang mit „Hamilton“ der große Coup: Die Lebensgeschichte von Alexander Hamilton (1757-1804), einem weniger bekannten und doch durch das von ihm gegründete Finanzsystem historisch gesehen elementaren Gründungsvater der Vereinigten Staaten von Amerika, fasziniert. Dem Waisenkind gelingt es, sich gegen alle Widerstände in die erste Reihe der Politik hochzuarbeiten. An der Seite von George Washington erhält er Anerkennung, spürt aber auch schnell, dass die Luft dort oben dünn ist und es viele Neider gibt.

Leider zeigt er zwischenmenschlich kein besonders gutes Gespür, lässt sich mit den falschen Leuten ein, heiratet die Schwester der Frau, die er eigentlich liebt, vergisst vor lauter Verbissenheit und Ehrgeiz seine Familie, lässt sich im vollen Wissen um die Konsequenzen vom Ehemann seiner Affäre erpressen und wird am Ende von einem jahrzehntelangen Wegbegleiter im Duell ermordet, der den Erfolg Hamiltons nie akzeptieren konnte und wollte.

Hamilton schrieb sich im Laufe seines Lebens um Kopf und Kragen, was ihn im Rückblick mitunter als einen sehr nervtötenden Zeitgenossen erscheinen lässt. Zudem war er so sehr von sich und seinem Wissen überzeugt, dass er keine Kritik duldete: In Zeiten, wo sich Amerika gerade von Großbritannien losgesagt hatte, setzte er sich für eine starke nationale Regierung ein. Er kämpfte gegen die Briten und lehnte gleichzeitig öffentliche Unruhen ab, da in seinen Augen nur geordneter Widerstand zielführend war. Sein Starrsinn brachte ihm den Titel als erster Finanzminister Amerikas ein. Er gründete die Föderalistische Partei, zudem war er Mitbegründer der New York Manumission Society, die für die Abschaffung der Sklaverei und für die Rechte der afrikanischstämmigen Bevölkerung eintrat (Wikipedia) .Einige der von ihm in die Verfassung der Vereinigten Staaten eingebrachten Themen haben auch heute noch ihre Berechtigung und Gültigkeit.

Klingt nach viel Drama und Psychospielchen? Von beidem gibt es reichlich, doch Miranda, der für Buch, Musik und Texte verantwortlich zeichnet, gelingt es, die Show trotz der vielschichtigen Charaktere und zahlreichen Handlungsstränge kurzweilig zu gestalten.

Am Broadway hat Miranda die Titelrolle selbst gespielt und damit den Maßstab gesetzt, an dem sich alle Darsteller messen lassen müssen, die in die Rolle des Gründungsvaters schlüpfen. Doch Miranda hatte sich sechs Jahre lang intensiv mit dem Mann auseinandergesetzt, der noch heute die 10$-Scheine der USA schmückt. Basierend auf der 800-seitigen Biografie von Ron Chernow, die ohne den unermüdlichen Einsatz von Hamiltons Witwe Elizabeth Hamilton wohl nie zustande gekommen wäre, hat Miranda eine knapp dreistündige Bühnenshow erschaffen, die die wesentlichen Akteure der Gründerzeit (George Washington, Thomas Jefferson, Aaron Burr, King George) in eine abwechslungsreiche, auf Tatsachen beruhende Geschichtsstunde einbindet.

Für Miranda war sofort klar, dass er „Hamilton“ musikalisch im Hiphop verorten würde: „[Hamiltons] Lebensgeschichte ist so unwahrscheinlich wie die Geschichte Amerikas selbst. Genau das ist Hiphop: Man schreibt über seinen Kampf und beschreibt diesen so gut, dass man den eigenen Kampf überwindet.“

In London wurde mit Jamael Westman ein in der Musicalszene weitgehend Unbekannter mit der Titelrolle besetzt. Miranda weiß eben genau, was er sucht. Westman ist nicht der typische Sympathieträger, die kantigen Eigenschaften Hamiltons glaubt man ihm sofort. Doch es gelingt ihm, den Bogen zum gefühlvollen Ehemann, dem von Selbstzweifeln zerfressenen Politneuling und dem schuldbewussten Vater (nach dem Duell-Tod seines Sohns Philips) zu spannen. Er bringt den schnellen Sprechgesang fehlerlos über die Rampe. Miranda hat sehr viel Text in die 34 (!) Songs gepackt. Das ist für viele Musicaldarsteller sicherlich eine Herausforderung. Doch Westman gibt sich hier keine Blöße. Manchmal wirkt er geradezu unnahbar, was aber einmal mehr die unsympathischen Eigenschaften Alexander Hamiltons unterstreicht. Und dennoch fühlt man mit ihm mit. Man hinterfragt seine Entscheidungen, möchte ihn manches Mal wachrütteln oder einfach nur in den Arm nehmen. Diese Titelrolle ist wahrlich kein einfacher Part.

Seinen ewigen Widersacher Aaron Burr spielt an diesem Abend Aaron Lee Lambert. Burr ist zielstrebig, opportunistisch und geht über Leichen, um seine Ziele zu erreichen. Diese Eigenschaften verkörpert Lambert über weite Strecken glaubwürdig. Gesanglich zeigt er insbesondere bei „Wait for it“ was in ihm steckt. Ansonsten wirkt er vielfach etwas schüchtern, was in dieser gesanglich und schauspielerisch sehr intensiven Show sehr schnell auffällt.

Aus verschiedensten Gründen herausragend sind Dom Hartley-Harris als George Washington, Jason Pennycooke als Marquis de Lafayette und Thomas Jefferson sowie Jon Robyns als King George. Hartley-Harris lässt schon im ersten Song („Alexander Hamilton“) aufhorchen. Sein voluminöser Bariton sticht deutlich hervor. Auch wenn er von seiner Statur her nicht sonderlich imposant ist, stimmlich steckt er alle in die Tasche und wird so seiner Rolle als erster US-Präsident mehr als gerecht. Robyns hat als King George sicherlich die dankbarste Rolle, darf er das Geschehen in New York doch in höchst süffisanter Weise vom Bühnenrand kommentieren. Sein überspitzter Oxford-Akzent und seine leicht tuntige Attitüde sorgen für Lacher, die er augenscheinlich sehr genießt. Pennycooke darf in seiner Doppelrolle übertreiben: Als französischer Gesandter Lafayette stolziert er in extravaganten Anzügen über die Bühne, während er als 3. US-Präsident Jefferson ungehemmt seine Macht ausspielt. Zudem setzt er auch gesanglich Duftmarken, denn auch er kommt mit dem gesanglichen Schnellfeuer dieser Show hervorragend zurecht.

Emile Ruddock setzt als Hercules Mulligan im ersten Akt deutlich hörbare Akzente. Im zweiten Akt, als angehender vierter Präsident der Vereinigten Staaten bleibt er jedoch leider eher etwas blass.

Wenn schon die Herren dieses Ensembles echte „Typen“ sind und jeder einzelne spannende Facetten und aufmerksamkeitsstarke Soli hat, möchten die Damen hier natürlich nicht hintenanstehen. Rachelle Ann Go, Allyson Ava-Brown und Sharon Rose sind als Schwestern-Trio Eliza, Angelica und Peggy Schuyler pure Frauen-Power: Frech, energisch und leidenschaftlich zeigen sie den Männern ganz klar, dass mit ihnen zu rechnen ist. Jede einzelne der drei Damen überzeugt schauspielerisch vollends, gesanglich jedoch wünscht man sich insbesondere von Ava-Brown mehr. Während Go, die am West End u. a. in „Miss Saigon“ brillierte, die Hiphop-Kompositionen beachtlich meistert, hat Ava-Brown hier mit ihrem eher klassischen Gesangshintergrund mehr zu kämpfen. Man hört, dass ihr Hiphop nicht wirklich liegt und die schnellen Texte nicht so recht zu ihrem Sopran passen wollen. Nichtsdestoweniger bilden die drei mehr als nur einen hübschen Gegenpol zu den Männern. Insbesondere Go darf am Schluss deutlich zeigen, dass die Welt ohne Eliza kaum etwas über den wahren Alexander Hamilton wüsste.

Insgesamt stehen „nur“ 23 Darsteller auf der Bühne, die das Leben und Wirken von Hamilton in einer sehr modernen Inszenierung nachzeichnen. Doch jeder bekommt seinen Moment. Insbesondere die Tänzerinnen und Tänzer können in dieser Show glänzen. Andy Blankenbuehler erhielt für seine intensiven, teils extremen „Hamilton“-Choreographien einen Laurence Olivier Award. Man versteht sofort warum, denn der fesselnden Wirkung der Tanzszenen kann man sich kaum entziehen.

Dass die Künstler auf der Bühne so glänzen können, liegt unter anderem auch daran, dass Paul Tazewell in den Kostümen viel mit Beigetönen arbeitet, die Gehröcke in gedecktem Blau und die Damenkleider in zurückhaltendem Pastell gehalten sind. Einzig King George, der Marquis de Lafayette und Hamiltons Affäre Maria Reynolds tragen kräftige Farben. Eingebettet in ein mit Holzbalken karg gestaltetes Bühnenbild (David Korins) bestehend aus einer Galerie und einer mobilen Treppe sowie Stühlen, Tischen und Koffern lenkt nichts vom eigentlichen Geschehen ab.

Alex Lacamoire hat Lin-Manuel Mirandas Songs so mitreißend arrangiert und orchestriert, dass sie direkt in die Beine gehen. Das 10-köpfige Orchester unter der Leitung von Richard Beadle steht der Leistung der Hauptdarsteller in Nichts nach und bringt das Victoria Palace Theatre zum Beben.

„Hamilton“ ist ein ungewöhnliches Musical, das durch seine intensiven Songs und die herausragenden Hauptdarsteller besticht. Es ist kein Stoff, den man so nebenbei konsumiert, denn auch Mirandas Texte haben es in sich. Da man in der rasenden Geschwindigkeit, in der sich die Handlung auf der Bühne entfaltet, kaum jedes Wort verstehen kann, empfiehlt sich das Nachlesen der Songtexte. Erst dann bekommt man ein wirkliches Gespür dafür, was für eine Meisterleistung die Sängerinnen und Sänger allabendlich vollbringen. Sich hier nicht zu verhaspeln, ist ganz große Kunst.

Der Stoff dieses Musicals ist Ur-amerikanisch, mit leichtem britischen Einfluss. Darauf muss man sich einlassen, wenn man dieses Stück verstehen will. Patriotismus und Kolonialismus werden großgeschrieben. Schon allein deshalb ist es schwer unvorstellbar, dass „Hamilton“ in einer deutschsprachigen Fassung auf einer deutschen Bühne laufen wird. Die Stage Entertainment hat ihre diesbezüglichen Pläne auch erstmal abgeschrieben. So großartig „Hamilton“ in der englischen Originalfassung ist, so wenig wird eine für das deutsche Publikum adaptierte Fassung dem Ansinnen von Lin-Manuel Miranda gerecht, dem Mann auf der 10$-Note ein (musikalisches) Denkmal zu setzen – frei nach dem Motto „Who lives, who dies, who tells your story?“

Michaela Flint

Theater: Victoria Palace Theatre, London
Besuchte Vorstellung: 4. Oktober 2019
Darsteller: Jamael Westman, Rachelle Ann Go, Aaron Lee Lambert, Allyson Ava-Brown, Dom Hartley-Harris, Jason Pennycooke, Emile Ruddock, Sharon Rose, Jon Robyns
Regie / Musik: Thomas Kail / Lin-Manuel Miranda
Fotos: Matthew Murphy for Delfont Mackintosh