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Indien erobert Deutschland

Gleich zwei musikalische Tourneen, die sich thematisch mit der indischen Kultur, den Traditionen und Gebräuchen, Musik und Tänzen befassen, sind in den nächsten Wochen in Deutschland unterwegs. Während „Bharati“, mit dem Untertitel „Auf der Suche nach dem Licht…“, mehr auf die Geschichte des Landes setzt, stehen bei „Bollywood – The Show“ moderne Rhythmen und Tänze aus den Filmen der Bollywood-Industrie im Mittelpunkt.

„Bharati“, der indische Name für „Indien“, feierte seine Deutschlandpremiere am 27. September in der Color Line Arena in Hamburg, ein Ort, an dem sich die 100 Tänzer, Musiker und Akrobaten gut verteilten. Die Bühne ist bestimmt von klassischen Mustern, es gibt mehrere Treppenstufen und Podeste, auf denen sich die unterschiedlichen Szenen abspielen. „Bharati“ soll als modernes Märchen mit der darin enthaltenen obligatorischen Liebesgeschichte die Geschichte Indiens zwischen gestern und heute erzählen.

Ein Erzähler (Michel Sorbach) führt die Zuschauer durch die Geschichte von Bharati (Bhavna Pani) und Siddharta (Gagan Malik), die stellvertretend für das traditionelle (Bharati) und moderne (Siddharta) Indien zueinander finden. Natürlich müssen auch sie sich gegen einen übermächtigen Vater durchsetzen, der für seine Tochter bereits einen anderen Mann (Raj, gespielt von Harikiran Sanaka) ausgesucht hat, aber als Siddharta, der im Westen aufgewachsene Ingenieur, sich seiner Wurzeln erinnert und die alten Traditionen anerkennt, gewinnt er auch den grantelnden Vater Domraja (Mangesh Nikam) für sich. Ende gut, alles gut.

Neben den Hauptakteuren, die allesamt sehr gut tanzen und schauspielern, stehen links und rechts der Bühne bis zu fünf Sänger, die live begleitet von einem 14-köpfigen Orchester, für die musikalische Untermalung sorgen. Wobei Untermalung der Leistung der Sängerinnen und Sänger in keinster Weise gerecht wird, denn wer indische Musik kennt, weiß, dass die Stücke gesanglich hoch anspruchsvoll sind.

Die Ausstattung von „Bharati“ ist kaum zu übertreffen: Neben einer in traditionellen Farben gehaltenen Bühne gibt es eine Leinwand, auf die passend zu den Anekdoten des Erzählers einzelne Videosequenzen projiziert werden und das Bühnenspektakel reich bebildern. Die traditionell recht farbenfrohen Kostüme versetzen den Zuschauer in einen regelrechten Farbrausch. Die mitreißende Musik steckt auch die Hamburger an und liefert so die Vorlage für den Erzähler mehreren tausend Zuschauern einige indische Schrittfolgen beizubringen. Nach dem Entspannungs-„Om“ im ersten Akt ist der kollektive Tanz bereits die zweite, vom Publikum gern angenommene Mitmach-Aktion.

Nachteilig an „Bharati“ ist zum einen, dass große Hallen die Energie des Stücks nicht festhalten können. Schon wenige Meter von der Bühne entfernt, gehen zahlreiche optische Details verloren. Das ist schade, denn die indische Kultur ist schier unermesslich reich an Feinheiten, die sich in allen Situationen widerspiegeln. Die Gestik und Mimik von Tänzer und Schauspieler lassen sich nur noch erahnen. Leinwände als Unterstützung wären hier wünschenswert gewesen. Auch die Geschichte entfaltet sich nicht schlüssig und dient lediglich als Mittel zum Zweck. Doch wer auf eine anspruchsvolle Handlung verzichten kann, lässt sich von Klängen, Bewegungen und Gesängen bezaubern und erlebt eine phantastische Reise durch Indiens Geschichte. Ob man das Licht während „Bharati“ findet, muss jeder für sich selbst entscheiden.

„Bollywood“ verzichtet gänzlich auf der „Erleuchtungs-Schnickschnack“, setzt aber ebenfalls auf die bewährte Liebesgeschichte. In diesem Fall wird die Geschichte der Merchant-Familie erzählt, einer der bekannten Familie im indischen Filmbusiness. Das jüngste Mitglied dieser Film-Dynastie, Vaibhavi Merchant, hat für „Bollywood“ die Choreographien erarbeitet.

Die junge Ayesha (Carol Furtado) zieht es von ihrem indischen Dorf in die Bollywood-Metropole Mumbai (Bombay). Ihr Großvater, Shantilal (Arif Zakaria), der früher als der traditionelle Bollywood-Choreograph schlechthin tätig war, hat sich von der Glitzerwelt abgewandt und führt nun ein Leben in der Wüste von Rajasthan und versucht seine Enkelin dazu zu bewegen, die Familientradition zu bewahren und den Khatak-Tanz, den Tanz der Götter, weiterzugeben. Doch die junge Frau hat andere Vorstellungen von ihrem Leben, entflieht in die Großstadt und lässt neben ihrem Großvater und ihren Traditionen auch die Liebe ihres Lebens, Uday (Deepak Rawant), zurück. Ayesha wird zur gefeierten Choreographin moderner indischer Filme und sonnt sich in ihrem Ruhm. Ein Brief von Uday, in dem sie erfährt, dass es ihrem Großvater nicht gut geht, lässt alle Erinnerungen aufkommen und sie eilt zurück nach Rajasthan. Sie kommt in eine scheinbar andere Welt: Traditionen und Glauben stehen im Vordergrund. Ayesha versucht, sich wieder mit Shantilal, der durch seine Einsamkeit dem Alkohol verfallen ist, zu versöhnen. Auch ihre Jugendliebe Uday ist natürlich vor Ort und macht ihr den lang ersehnten Heiratsantrag. Am Sterbebett verspricht sie sich und ihrem Großvater, seine Ideale fortzuführen. Ayesha erhält für ihre kunstvolle Verbindung von traditionellen und modernen Tanzstilen die Oscars der Bollywood-Industrie.

Die sehr intensiven Gefühle, die die junge Frau durchlebt sowie ihr Werdegang werden durch zahlreiche Tänze und Songs in Bilder umgesetzt. Viele der Stücke sind aus den Bollywood-Schmachtfilmen bekannt, die man auch hierzulande kennt. Das Hauptgewicht liegt jedoch weniger auf traditionellen Melodien, Kostümen und Gebräuchen, sondern auf dem modernen Indien. Da erklingen Synthesizer-Pop-Songs aus dem Lautsprecher unterstützt von klassischen indischen Instrumenten. Auf Live-Gesang wird in „Bollywood“ – im übrigen genauso wie in den Filmen auch – gänzlich verzichtet: Alle Stimmen kommen vom Band, die Tänzer bewegen lediglich ihre Lippen dazu. Dieses scheinbare Manko wird aber durch umso energiereichere Tänze wettgemacht. Auch wenn in dieser Show „nur“ 50 Tänzer, Musiker und Akrobaten auf der Bühne stehen, scheint die Luft permanent zu vibrieren. Die farbenfrohen Kostüme zwischen indischen Traditionen und sehr knappen Hot-Pants und bauchfreien Tops heizen die Stimmung zusätzlich an. Schon nach den ersten zwei Minuten hielt es kaum jemand mehr auf den Sitzen des Berliner „Admiralspalast“. Schon vorab wurde das Publikum durch das Einströmen von Räucherstäbchen-schwangerer Luft in den Saal auf den indischen Subkontinent versetzt.

Knapp zwei Stunden dauert dieses energiegeladene Spektakel, das durch deutsche Übertitelung die englische Originalsprache für alle verständlich macht (auch wenn die deutsche Grammatik der Übertitel manchmal recht fragwürdig ist). Regisseur Toby Gough hat nach „Lady Salsa“ mit „Bollywood“ eine schöne, unterhaltsame Show erschaffen, die dem deutschen Publikum die indische Filmindustrie näher bringt. Die Choreographien sind sehr schnell und werden dennoch von allen Beteiligten perfekt umgesetzt. Lediglich Hauptdarstellerin Carol Furtado (auch wenn der Name und ihr Aussehenetwas anderes andeuten, ist die 31-Jährige doch eine echte Inderin) lässt es einige Male als Detailgenauigkeit vermissen. Alle Beteiligten auf der Bühne sind sich ihrer körperlichen Anziehung mehr als bewusst und so werden die ersten Reihen des Publikums gnadenlos mit beflirtet. Dass sich Deepak Rawant (der bereits in mehreren bekannten Bollywood-Filmen mitgewirkt hat) allerdings andauernd die Kleider vom Leib reißt, ist doch ziemlich überflüssig.

Insgesamt überträgt sich die Energie des Ensembles auf das Publikum, die Geschichte der Merchant-Familie ist schön tragisch und romantisch umgesetzt, die Handlung ist nachvollziehbar – eben so wie man es von „Bollywood“ erwartet.

Sollte man eine Empfehlung geben, welche der beiden Shows man ansehen muss, lautet diese: Beide! Während „Bharati“ mit ruhigeren Tönen, aber mehr Traditionen daher kommt, trifft „Bollywood“ sein Zielpublikum mit fetzigen Rhythmen und heißen Tänzerinnen und Tänzern. Beide haben ihre Berechtigung und ihre Vorteile.

Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical

Theater: Color Line Arena, Hamburg / Admiralspalast, Berlin
Premiere: 27. September 2006
Fotos: Theo O. Krath