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Großartiger Stoff für Diskussionen

Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ hält trotz seines stattlichen Alters von mehr als 130 Jahren immer noch viele Gesprächsstoff parat. In der musikalischen Fassung von Duncan Sheik (Musik) und Steven Sater (Buch) zieht das Stück seit seiner Broadway-Premiere im Jahr 2006 das Publikum in seinen Bann. Auch die Junge Bühne T.3 im Theater Lüneburg hat sich in dieser Spielzeit für dieses bewegende Musical entschieden.

Friedrich von Mansberg zeigt von Beginn an die chaotische Gedanken- und Lebenswelt von Teenagern, die damals wie heute voller Widersprüche, ungehörter Hilferufe und Experimente ist. In altmodischer Unterwäsche begegnen sich die Schüler ohne einander berühren zu dürfen und wollen. In einer Folgeszene („So’n verficktes Leben“) streicheln sich alle Nachwuchskünstler selbst – Sex ist das bestimmende Thema! Dies spiegelt sich auch in den Choreografien von Rhea Gubler wider, die körperbetont und sehr anspruchsvoll sind (u. a. „Im Arsch“).

Doch Wendla (Pia Naegeli) möchte es genau wissen: Wo kommen die Babys her? Doch ihre Mutter verweigert eine Auskunft dazu. Janosh Kratz hat als Moritz ganz andere Probleme: Wie soll er den Schulabschluss schaffen, wenn er immer nur von Frauenschenkeln träumt? Bleibt noch Melchior (gespielt von Anton von Mansberg), der sich dank einer sehr liberalen Mutter umfassend zum Thema Sexualität fortbilden konnte. Er springt seinem Freund Melchior beiseite und führt ihm alle Details in Wort und Bild in einem Brief auf. Doch das verwirrt Moritz nur umso mehr. Er kann dem Druck von Schule und sexuellen Fantasien nicht standhalten. Ohne Rückhalt in der Familie entschließt er sich für den Freitod.

Wendla und Melchior lernen sich währenddessen sehr intensiv kennen – ohne Gewissensbisse, denn die nicht aufgeklärte Wendla weiß nicht, was sie da macht, und Melchior sieht das alles eher als Ausprobieren an. Es kommt zur Katastrophe als Wendla schwanger wird, ihre Mutter sie zu einer Abtreibung zwingt, die sie nicht überlebt und Melchior alles hinwirft und die Schule abbricht. Auch er trägt sich mit dem Gedanken, sich selbst das Leben zu nehmen. Doch was würde es ändern? Er entscheidet sich dagegen.

Die Bühne (Barbara Bloch) im T.3 ist mit Kunstrasen ausgekleidet und eine Spiegelfolie symbolisiert sowohl einen Bachlauf als auch Moritz‘ Grab. Diese spartanische Kulisse passt sehr gut, denn so stehen die Charaktere noch mehr im Vordergrund. Zehn Nachwuchstalente (szenenweise unterstützt von den Zweitbesetzungen) sowie zwei Erwachsene erwecken diese durchaus verstörende Handlung zum Leben. Warum Sascha Littig in allen erwachsenen Frauenrollen und Paula Rohe in den erwachsenen Männerrollen zu sehen sind, erschließt sich nicht wirklich. Das Stück ist aufwühlend, Fragen werden – zumindest in den Songs – sehr deutlich gestellt, daher ist auch nach Lesen des Programmhefts nicht schlüssig, warum hier nun noch zwangsweise Rollenklischees aufgebrochen werden müssen (und dies auch nur bei den Erwachsenen). Nichtsdestoweniger kann insbesondere Littig als strenge Lehrerin und hilflos an Traditionen festhaltende Mutter überzeugen.

Den jungen Darstellerinnen und Darstellern fordert dieses Stück, insbesondere die rockigen Nummern, viel ab. Anton von Mansberg hat in den letzten Jahren immer wieder tragende Rollen in den T.3-Stücken übernommen und es ist schön zu erleben, welche Entwicklung er durchmacht. Sein eher nasaler Gesang macht seine Stimme einzigartig, sein wissendes Spiel verleiht Melchior etwas leicht Überhebliches, was aber durchaus zum Charakter passt. Das Duett „Mehr als nur Worte“, in dem Melchior und Wendla ihre Zuneigung zueinander thematisieren, gelingt von Mansberg und Naegeli sehr harmonisch. Anna Schwemmer hat als Vocal Coach nicht nur hier sehr gute Arbeit geleistet. Auch das Terzett zum Schluss, in dem Melchior das Zwiegespräch mit Moritz und Wendla sucht („Nicht mehr hier“), bleibt hängen.  Weitere Highlights können Juliana Kratz als Ilse („Lied des Sommers“) und Gunt Chuluun als Hänschen setzen.

„Spring Awakening“ in Lüneburg ist nicht einfach nur sehenswert. Es ergeben sich daraus viele auch heute noch aktuelle Themen, die man im Nachgang diskutieren kann und vielleicht sollte.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Junge Bühne T.3, Lüneburg
Premiere: 30. September 2022
Darsteller: Pia Naegeli, Anton von Mansberg, Janosh Kratz, Sascha Littig, Paula Rohe
Regie: Friedrich von Mansberg
Fotos: Hans-Jürgen Wege