Eigentlich sollte an dieser Stelle eine Bericht über die erfolgreiche Weltpremiere einen Musicals mit Kultpotential folgen, doch leider kam alles anders als geplant: Nach nur 79 Vorstellungen fiel für die lang erwartete Musicalfassung des Kultfilms „Vom Winde verweht“ bereits am 21. Juni der letzte Vorhang.
Obgleich die Produktion mit Trevor Nunn einen der anerkanntesten und erfahrensten Musical-Regisseur an der Spitze des Team hatte, stand „Gone with the Wind“ von Anfang an unter keinem guten Stern. In seiner ursprünglichen Fassung war das Stück mehr als vier Stunden lang, was einige Gäste während der Previewphase dazu veranlasste, das Theater eher zu verlassen, um ihre Züge noch zu erreichen. Zwar wurde die Show bis zur offiziellen Premiere am 22. April um knapp eine Stunde gekürzt, aber die englischen Musicalkritiker ließen dennoch kein gutes Haar daran. War es Zufall, dass Hauptdarstellerin Jill Paice („The Woman in White“) direkt nach der Premiere krankheitsbedingt einige Zeit ausfiel?
Zu allem Überfluss wurden die Gespräche über einen Broadway-Transfer bis auf weiteres ebenfalls eingestellt, so dass Produzent Aldo Scrofani wirklich keine guten Nachrichten hatte, als er Anfang Juni das frühe Aus bekanntgeben musste.
Die Gründe für das Scheitern sind vielfältig, aber letztlich doch auch einen einzigen Faktor zurückzuführen: Margaret Martin. Martin hat das Buch geschrieben, die Musik komponiert und die Songtexte verfasst. Wo an anderer Stelle diese Personalunion hervorragend funktioniert, zeigt sie im Fall von „Gone with the Wind“ zahlreiche Schwächen.
Jeder kennt die tragische Geschichte von Scarlett O’Hara, die sich vor dem amerikanischen Bürgerkrieg unglücklich in Ashley verliebt, während des Krieges dem charmant-gerissenen Rhett Butler verfällt und nach dem Ende der Unruhen plötzlich ohne alles dasteht. Dadurch, dass das Publikum sehr firm ist, was die Handlung angeht, beobachtet man das Geschehen unweigerlich sehr genau. Einen Vier-Stunden-Film auf eine Musicalbühne zu pressen, ist ohne Frage eine große Herausforderung. Doch leider muss man festhalten, dass diese im aktuellen Fall nicht gemeistert wurde. Das Stück wurde (zwangsläufig) zusammengedampft, die wenigsten Charaktere haben die Tragweite, die sie im Film haben. Viele Dialoge unterbrechen den Fluss des Geschehens unnötig.
Zudem plätschert die Musik recht belanglos daher. Keine Melodie, die sich im Ohr festsetzt, keine großen Showstopper.
Gegen dieses enge Korsett kämpfen auch die Darsteller an. Während Jill Paice als Scarlett und Darius Darnesh als Rhett noch ausreichend Gelegenheit bekommen, ihre Rollen auszufüllen, fehlt es bei Ashley, Melanie und Mammy (um nur einige zu nennen) an jeglichem Tiefgang. Viele Szenen werden „abgespielt“ und die facettenreiche Beziehung zwischen den einzelnen Akteuren gänzlich ignoriert. Und dabei stehen mehr als 30 Darsteller auf der Bühne!
Konzentrieren wir uns also auf die bekanntesten Figuren: Jill Paice gibt eine wundervoll zickige Scarlett O’Hara und steht einer Vivien Leigh in nichts nach. Auch gesanglich überzeugt sich in den wenigen Songs, die sie präsentieren darf.
Ihre schauspielerische Leidenschaft kann sie zwar nicht auf die Duette und Soli übertragen, dass liegt aber zu großen Teilen auch daran, dass die Musik eine solche Intensität schlichtweg nicht zulässt.
Den Lebemann Rhett Butler kennt man als weltgewandt, zuvorkommend, immer mit einem bissigen Kommentar auf den Lippen. Darius Darnesh verkörpert diese Rolle exzellent. Während er vielleicht in mancher Szene zu “lieb” ist, hat er gerade in den Auseinandersetzungen mit Scarlett seine ganz starken Momente. Die tiefe Verletztheit und die daraus resultierende Härte nimmt man ihm ab. Seine wundervoll sonore Sprech- und Singstimme runden das Bild eines perfekten Bühnen-Rhett ab.
Scarletts große Liebe, Ashley Wilkes, wird von Edward Baker-Duly gegeben. Im Gegensatz zum filmischen Vorbild hat dieser Ashley durchaus einen eigenen Kopf und wirkt lange nicht so verweichlicht wie man es gewöhnt ist. Durch diese Änderung gewinnt der Charakter sehr dazu, auch wenn er im Hinblick auf das ganze Stück sehr blass bleibt. Gleiches gilt leider auch für die herzensgute Melanie (gespielt von Madeleine Worrall). Im Film ist die gute Seele immer unterschwellig präsent und steht Scarlett als engelsgleicher Counterpart gegenüber. Auf der Londoner Bühne haben die beiden Frauen kaum wirkliche gemeinsame Szene. Die Sterbeszene von Melanie wirkt dann auch recht aufgesetzt.
Ein wahrer Quell der Bühnenpräsenz und ein absoluter Ohrenschmaus ist Natasha Yvette Williams als Mammy. Auch wenn die Beziehung zwischen ihr und Scarlett nicht sonderlich ausgeprägt ist, so zieht die dralle Amerikanerin („The Color Purple“) doch alle Zuschauer spielend in ihren Bann. Das liegt zum einen daran, dass Mammy im Grunde ihres Herzens liebevoll ist (auch wenn ihre raue Schale das nicht immer nahelegt), aber vor allem liegt es daran, dass sie gemeinsam mit ihren dunkelhäutigen Kollegen die besten Songs zum Besten gibt.
Das musikalische Gefälle zwischen den Songs der Sklaven auf der einen Seite und denen der weißen Südstaatler ist enorm. Während einen bei Gesangsdarbietungen der „weißen Bühnenbevölkerung“ so manches Mal ein leichtes Gähnen erhascht, folgt man dem musikalischen Geschehen zu 100 % sobald die Sklaven ihre natürlich Gospel- und Soul-basierten Gesänge anstimmen.
Eine Erklärung für diesen sehr starken Stilbruch aus der Feder einer einzigen Frau gibt es wohl kaum. Man könnte vermuten, dass Martin die schwungvollen, tief rhythmischen Melodien der Sklaven einfach leicht von der Hand gingen, während sie die übrigen Songs deutlich spürbar handwerklich erarbeitet hat, was in jedem Akkord (negativ) zu spüren ist.
Aber „Vom Winde verweht“ hat durchaus auch eine positive Seite. Mit John Napier wurde neben Trevor Nunn ein Altmeister engagiert. Während Nunns Regie recht uninspiriert und pragmatisch wirkt, konnte sich Napier, der für das gleiche Theater vor mehr als zwei Jahrzehnten die „Cats“-Kulissen designte, mit Häusern der Südstaatler und Yankees befassen. Die Aufgabe war wiederum keine einfache, denn die große, offene Bühne des New London Theatre bietet reichlich Möglichkeiten für intensive Einblicke. Es gibt kein Bühnenportal und auch keine wirklich Abtrennung von Hinter- und Seitenbühne. So konnten die Zuschauer schon sehen, wer in der nächsten Szene die Bühne betreten wird. Durch die Arena-artige Bühne (die Zuschauer sitzen in einem Dreiviertelkreis darum herum) wurde der Zuschauersaal mit bespielt, was Napier dazu brachte, den ganzen Saal mit Holzbrüstungen, Flaggen usw. zu verkleiden. So platzierte er verschiedene Häuserfronten oberhalb der bespielten Fläche, die im Bürgerkrieg den (eigentlich erst 100 Jahre später geprägten) Dominoeffekt sehr plastisch darstellten als diese nacheinander einfach umfielen.
Tara und das Stadthaus in Charleston wurde auf einer kleinen Drehempore im hinteren Drittel der Bühne jeweils so platziert, dass sie unterschiedliche Ansichten freigaben und so verschiedene Szenenhintergründe bildeten. Vielfach wurde aber einfach die runde Bühnenfläche zwischen den Zuschauern genutzt, um Wohn- und Schlafzimmer, Garten oder Krankenlager darzustellen. Die Kostüme von Andreane Neofitou großartig und rücken jeden Charakter in das richtige Licht. Dass sie ihre Kunst beherrscht, zeigte sie bereits mit der Erarbeitung der Kostümwelten für „Les Misérables“. Und auch für „Gone with the Wind“ konnte sie aus dem Vollen schöpfen und so gibt es neben den obligatorischen Reifröcken mit unzähligen Unterröcken, Korsetts und feinsten Hüten bei den Damen, sehr eleganten Anzüge und Uniformen für die Herren. Optisch ist diese Produktion also in jeder Hinsicht einen Besuch wert.
Einerseits schade, dass Sie nicht mehr in diesen Genuss kommen. Andererseits haben Sie auch nicht wirklich viel verpasst, denn Buch und Musik bedürfen noch einer grundlegenden Überarbeitung (um nicht zu sagen Neuschöpfung), bevor „Gone with the Wind“ seine Wiederaufnahme erleben wird.
Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical
Darsteller: Darius Darnesh, Jill Paice
Regie: Trevor Nunn
Fotos: Catherine Ashmore