home 2017 Gelungene Ausstattung trifft auf ungewöhnliche Arrangements und oberflächliche Charaktere

Gelungene Ausstattung trifft auf ungewöhnliche Arrangements und oberflächliche Charaktere

Das English Theatre in Frankfurt überzeugt Publikum wie Kritiker seit Jahren mit hochklassigen Schauspiel- und Musicalinszenierungen. Das für jedes Stück neu zusammengestellte Ensemble verfügt über jahrelange Erfahrung in seinem Fach. Gleiches gilt für die Kreativen hinter den Kulissen.

Auch für das vor 20 Jahren zum ersten Mal am Broadway gezeigte Musical von Frank Wildhorn und Leslie Bricusse gelten diese Rahmenbedingungen. Neil Irish hat eine sehr treffende Umgebung für die schaurige Geschichte des experimentierfreudigen Dr. Jekyll und mordlüsternen Edward Hyde geschaffen: Die sechsköpfige Band nimmt (in zeitgenössischen Kostümen) auf der Empore Platz, die an der Balustrade den Blick frei gibt auf die darunter liegende Rundbühne, deren rückwärtige Hälfte durch reich gefüllte Laborregale begrenzt und an den Seiten von einer groben Holzkonstruktion und Metalltreppen flankiert wird.

So stimmungsvoll wie die Bühne sind Irish auch die Kostüme gelungen, die allesamt perfekt ins viktorianische London passen, wo die Geschichte von Jekyll/Hyde, Emma und Lucy bekanntlich spielt.

Wildhorns Kompositionen wurden für die Inszenierung in Frankfurt von Tom Attwood großteils neu arrangiert, was irritierende Elemente Spanischer Gitarre, Club-Sounds und Sprechgesang hervorbringt. Dass der „eher orchestralen Musik“ durch diese Überarbeitung wie in der Pressemitteilung angegeben „härtere Rockklänge“ gegenüberstehen, muss jedoch nach dem Besuch der Premiere eindeutig angezweifelt werden. „Dangerous Game“ in aktuellem Club-Sound zu spielen, will so gar nicht so diesem düsteren, sexuell aufgeladenen Song passen. Hingegen ist die Idee „Actor-Musicians“ einzubinden, die als Stride oder Nellie keine unwesentlichen Rollen spielen und in anderen Szenen die Band an Klarinette und Cello unterstützen, sehr gelungen. Doch musikalisch sind diese neuen Arrangements recht fragwürdig.

John Addison, der schon 2014 im English Theatre als Sam in „Ghost“ zu sehen war, übernimmt die anspruchsvolle Titelrolle. Seine einschlägigen Erfahrungen als „Raoul“ oder „Marius“ sind schon in seinem ersten Solo unüberhörbar. Er singt sauber, klar und mit Kraft. Dass die Band ihn bei „Pursue the truth“ phasenweise übertönt (und sich dies im Laufe des Abends gerade in den Uptempo-Nummern mehrfach wiederholt), macht es Addison nicht gerade leichter.

Bei den Choreographien verschenkt Cydney Uffindell-Phillips viel Potential. Sie hat nur zwölf Darsteller auf der Bühne, die nicht alle geborene Tänzer sind, was man aber bei den in der Originalfassung eher ruckartigen Bewegungen bei „Facade“ oder „Murder“ auch nicht sein muss. Doch leider ist bei den weniger durchchoreographierten Szenen – mit Ausnahme der Schlussapplausordnung – keine Struktur erkennbar. Schade auch, dass die Gelegenheit nicht genutzt wurde, ausgerechnet am 11. November (an dem traditionell mit Mohnblumen Kriegsveteranen gedankt wird) die an die Gesellschaft verteilten Poppies in den Tanz einzubinden. So wedeln die Darsteller einfach nur unmotiviert damit herum, was leider wenig stilvoll ist.

Samantha Dorsey steht als Dr. Jekylls Verlobte Emma Carew auf der Bühne. Sie füllt die Rolle sehr gut aus, verleiht der vermeintlich angepassten Adelstochter ihren eigenen Willen und überzeugt gesanglich schon bei ihrem ersten Auftritt („Take me as I am“).

Als Nellie ist Jessica Singer zu erleben. Sie spielt und singt die Chefin im „Red Rat Club“ mit viel Leidenschaft und Sex Appeal. Unweigerlich fragt man sich, warum nicht sie für die selbstbewusste Lucy besetzt wurde, die nicht nur Jekyll/Hyde mit ihrem Spiel um den Finger wickelt. Stattdessen gibt Clodagh Long die Prostituierte, die am Ende Hydes Mordlust zum Opfer fällt. Long singt wunderschön und beinahe unschuldig, doch ihre eher kindliche Stimme, ihr braver Gesichtsausdruck und ihre wenig anrüchige Art sich zu bewegen, werfen Fragen nach der Auslegung dieses Charakters aus. Dazu kommt noch, dass „Bring on the men“ eher als blasse Moulin Rouge Version inszeniert wird, anstatt als schlüpfrig-deftige Anmachnummer in einem Bordell.

Dass Emma und Lucy nicht die beiden Welten der viktorianischen Ober- und Unterschicht repräsentieren, wird bei ihren wundervollen Duett „In his eyes“ klar: Die beiden wirken wie Zwillinge, die sich nur durch ihre unterschiedlichen Kleider unterscheiden. Mimik, Habitus und Stimmlage sind absolut identisch. Sehr schade, dass hier kein Wert auf Trennschärfe gelegt wurde.

Diesen Bruch mit dem Bekannten, das Abrücken vom Erwartbaren zieht sich an vielen Stellen durch diese Inszenierung von Tom Littler. Nicht nur Lucy, Nellie und das „Red Rat“ sind eher unspektakulär und die Charaktere blass, auch und gerade für Jekyll/Hyde legt Littler einen offenbar sehr schwachen Charakter zugrunde. Im Programmheft wird dargelegt, dass die Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde schon immer falsch wahrgenommen wurde: Weder ist Dr. Jekyll ein guter Mensch, noch Hyde eine Zufallsentdeckung oder gar sein böses Alter Ego, gegen das er im Rahmen seiner Forschung ankämpft. Vielmehr ist Dr. Jekyll ein unterdrückter Mann, der seine aggressiven und sexuellen Neigungen als Edward Hyde endlich ausleben kann.

Legt man diese Denkweise zugrunde, kann man ansatzweise nachvollziehen, warum bei der Verwandlung von Jekyll in Hyde kaum eine Änderung wahrzunehmen ist – weder optisch noch stimmlich zeigt Addison eine deutliche Wandlung. In der „Confrontation“ wird noch deutlicher, dass sich Jekyll und Hyde nur marginal voneinander unterscheiden. Zwar wird mit gelungenen Lichtwechseln (Licht-Design: Richard G. Jones) der Kampf zweier Charaktere angedeutet, doch wirklich hören oder spüren kann man hiervon nichts.

Schöne Einfälle wie die permanente (gesellschaftliche) Beobachtung unter der Dr. Jekyll während einer Experimente steht (das Ensemble steht in weißen Kitteln an der Balustrade oberhalb des Labors und folgt dem dortigen Geschehen unter sichtbarer Anteilnahme) werden durch unerklärliche Einschnitte wie das spontane Wiederauferstehen der von Hyde Ermordeten während des Songs „Murder“ zunichte gemacht. „I am not dead yet“ stand letztes Jahr bei „Spamalot“ auf dem Programm. Da wirkt es schon unfreiwillig komisch, wenn Lady Beaconsfied und General Glossop sich mitten im Song wieder aufrichten und mitsingen. Als dann noch Lord Savages Kopf nach dem Überfahren durch den Zug am anderen Ende der Bühne wieder aufgefangen wird, ist die Grenze zur Persiflage überschritten.

Dass Dr. Jekyll bei seiner Hochzeit durch die ihm in einer Art Halluzination erscheinende blutüberschmierte Lucy plötzlich wieder zu Hyde wird, ist auch eher überraschend für die Gäste und trägt zur allgemeinen Verwirrung des Publikums bei.

Wildhorns und Bricusses „Jekyll & Hyde“ funktioniert, weil es in sich stimmig, düster, sexy und spannend zugleich ist, weil es verschiedene Welten gegenüberstellt, mit Klischees spielt und die Figuren perfekt in dieses Gesamtkonzept eingebettet sind. Nimmt man diesem Musical die zugrundeliegende Wechselwirkung von Gut und Böse und inszeniert es so scheinbar willkürlich wie Littler es in Frankfurt gemacht hat, bleiben viele Fragezeichen übrig.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: English Theatre, Frankfurt
Premiere: 11. November 2017
Darsteller: John Addison, Samantha Dorsey, Jessica Singer, Clodagh Long
Musik / Regie: Frank Wildhorn / Tom Littler
Fotos: Martin Kaufhold
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