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Gefühlvoll und sehr berührend

Hätte er Rose doch bloß nie getroffen! Mit diesem großen Bedauern Alex Dillinghams beginnt Andrew Lloyd Webbers „Aspects of Love“. Ihm wäre in der Tat eine fast 20-jährige Gefühlsachterbahn erspart geblieben, doch wer zu derart tiefen Gefühlen fähig ist, weiß, dass – wie schon der berühmteste Song aus dem Musical sagt – Liebe alles ändert und nichts bleibt, wie es war.

Als großer Bewunderer ihrer Schauspielkunst lernt der blutjunge Alex die glücklose Schauspielerin Rose kennen und verliebt sich Hals über Kopf in die aufgrund der drohenden Arbeitslosigkeit etwas überspannte Rose Vibert. Spontan lädt er die deutlich ältere Schauspielerin in die Villa seines Onkels George ein. Diese Villa ist malerisch in den Bergen gelegen, abgeschieden und der perfekte Ort für eine Romanze. Auf der Zugfahrt hängen beide ihren Gedanken und Gefühlen nach und beschließen – aus gänzlich unterschiedlichen Motiven – sich von ihren Prinzipien zu entfernen und etwas zu wagen. Was haben sie schon zu verlieren? Außer vielleicht ihr Herz an jemand anderen…

Schon in diesen ersten Minuten wird deutlich, dass mit Carsten Lepper (Regie), Charles Quiggin (Bühne) und Stefanie Erb (Licht) hier ein Kreativteam zusammengefunden hat, dass das Spiel von Licht und Schatten perfekt beherrscht, um Ortswechsel wie aus dem Nichts zu bewerkstelligen und den jeweiligen Räumen eine ganz eigene Tiefe zu verleihen. Allein der mit drei Lichtern und Nebel angedeutete Zug, der in den Bahnhof einfährt, ist schon sehr pfiffig. Das Pyrenäen-Panorama, die einmalige Aussicht von Onkel Georges Villa, besteht aus gekonnt drapierten Stoffbahnen, die durch überaus clevere Licht- und Schattenakzente so plastisch wirken, als könne man die schneebedeckten Gipfel berühren.

George erfährt in den Armen seiner Muse Giulietta von dem „Einbruch“ seines Neffen in der Villa, kommt vorbei, um nach dem Rechten zu sehen, fühlt sich jedoch sofort als Störenfried beim frisch verliebten Paar. Nichtsdestoweniger ist die Anziehung zwischen Rose und George, die seinen Einrichtungsstil und Umgang sehr angenehm findet, nicht von der Hand zu weisen. Alex hingegen ist sich sicher, dass Georges Anziehungskraft ausschließlich von dessen Geld ausgeht. Als Rose unerwartet einen Brief von ihrem Agenten Marcel erhält, der sie dringend nach Paris zurückbittet, zeigt sich Alex‘ Hang zur Dramatik. Sofort hat er seinen Onkel als Absender der Nachricht in Verdacht, denn woher soll Marcel bitte die Adresse kennen? Diese aufbrausenden Gefühle bestimmen „Aspects of Love“ – und zwar bei allen Protagonisten.

Zeitsprung: Zwei Jahre später treffen wir Alex auf einem Pariser Straßenfest wieder. Er ist Soldat auf Heimaturlaub und besucht seinen Onkel, davon ausgehend, dass dieser mit Giulietta zusammenlebt. Er fällt aus allen Wolken als plötzlich Rose als Dame des Hauses vor ihm steht. Alex‘ Gefühle für Rose flammen sofort wieder auf. Er vermag nicht zu verstehen, warum sie bei George bleibt, betrügt dieser sie doch nur allzu offen. Doch Rose betont ihre unerschütterliche Liebe zu George. Was sie jedoch nicht davon abhält, sich ihren Gefühlen für Alex hinzugeben… Am nächsten Morgen kommt es zum Eklat als Rose Alex wegschicken und die gemeinsame Nacht vor George verheimlichen möchte, um sein schwaches Herz zu schonen. Alex bleibt und droht aus Eifersucht, Rose zu erschießen. In der Hitze des Gefechts kommt es jedoch glücklicherweise nur zu einem Streifschuss.

Auch in diesem Abschnitt zeigt Lepper viel Gespür für die emotionalen Verwirrungen der Protagonisten. Es geht menschlich zu, man kann die Beweggründe von Alex, Rose und George nur allzu gut verstehen. Dies ist nicht zuletzt auch der feinfühligen Personenregie Leppers zu verdanken.

Der treffende Rahmen für das sich abspielende Drama – eine bühnenfüllende Galerie bekannter (eigens von George gefälschter) Gemälde; die meisten davon Akte – ist der Ort, in dem George es sich in allen Belangen gut gehen lässt. Vor kurzem noch teilte er das Bett mit Giulietta, im nächsten Moment ist es Rose. Optisch sehr tiefgründig umgesetzt.

Auch die einleitende Volksfestatmosphäre zeugt von großer Kreativität: Kostüme (Aleš Valášek), Kulissen, Licht und Choreografie (Vanni Viscusi) bilden hier eine verstörend harmonische Einheit. Alle scheinen fröhlich und doch liegt ein nicht greifbarer dunkler Schatten über der Szenerie.

George möchte zugunsten seines Neffen zurückstecken, da er sich zu alt für Rose fühlt. Alex hingegen bestärkt ihn, dass er besser zu Rose passen würde („Du bist der bessere Mann für sie“). Doch George verlässt Paris und flüchtet sich in die Arme Giuliettas, die in Venedig auf ihn gewartet hat. Rose ist außer sich und lässt Alex durch Marcel rausschmeißen, um George zu folgen.

Der durch Viscusi choreographierte Szenenwechsel stellt die Ménage à trois tänzerisch nach, denn in Venedig angekommen, steht Rose direkt Georges langjähriger Geliebter gegenüber. Rose ist hoffnungslos überfordert und sinkt ihr ohnmächtig in die Arme.

Giulietta erkennt, dass Georges Gefühle für Rose stärker sind. Anstatt um George zu kämpfen, unterstützt sie ihn, freundet sich mit Rose an und mit einem Kuss der beiden Frauen wird mehr als deutlich, dass das Arrangement für alle zu funktionieren scheint.

Die großen Steintore, die die folgende Szene, in der George Rose gesteht, dass er mittellos ist und sie ihn im Gegenzug um seine Hand bittet, sind für ein Stadttheater sehr beeindruckend und schaffen im Handumdrehen einmal mehr eine ganz andere Welt.

Während Giulietta dem glücklichen Paar als erste mit einem Kuss für die Braut gratuliert, erfährt Alex in Malaysia von der Heirat. Noch immer ist er von Liebe und Eifersucht zerfressen…

Nach der Pause hat man Gelegenheit dem Orchester in all seiner Vollkommenheit zu lauschen. Zu einem Hintergrundbild, das mehr als nur vage an „Vom Winde verweht“ erinnert, spielt das Sinfonie-Orchester Münster brillant auf. Henning Ehlert treibt die Musiker zu Höchstleistungen an, die Lloyd Webbers voluminöse Kompositionen in Studioqualität zu Gehör bringen. Solch eine Präzision und Klanggüte ist heutzutage sehr selten geworden und einfach nur schön!

Es folgt ein weiterer Zeitsprung auf die Hinterbühne eines Pariser Theaters. Rose ist der gefeierte Star, der sie schon immer sein wollte. Marcel preist einmal mehr ihre schauspielerischen Qualitäten und macht ihr mit dem Überraschungsbesuch von Alex eine große Freude. Im Überschwang der Gefühle, die bei beiden immer noch sehr ausgeprägt sind, lädt Rose Alex kurzerhand aufs Landhaus zu George und der gemeinsamen Tochter Jenny ein. Roses aktueller Liebhaber Hugo hat genauso das Nachsehen wie Alex‘ aktuelle Gespielin Janet.

Gerade noch im Theater finden sich die Zuschauer nach einmal Blinzeln in der Villa wieder. Die 13-jährige Jenny ist ganz schön frech und findet großen Gefallen an dem stattlichen Leutnant, zu dem Alex inzwischen befördert wurde. Georges Liebeserklärung an seine Tochter geht ans Herz.

Das Zusammentreffen der vier verläuft sehr harmonisch. Auch Giulietta ist bei dieser „glücklichen Familie“ komplett abgemeldet und gibt sich in einem Café ihrem gebrochenen Herzen hin („Liebe ist viel mehr“). Das Szenenbild, die Choreografie für den tanzenden Kellner – beides bildet mit dem melancholischen Charakter des Songs eine perfekte Harmonie.

In der Villa vergeht die Zeit inzwischen wie im Flug. Der Jahreszeitenwechsel mit Drachensteigenlassen im Herbst, Eislaufen und Schneeballschlacht im Winter bis hin zum Picknick auf der Frühlingswiese ist sehr kreativ und kurzweilig umgesetzt. Hier gibt es viele kleine Details, auf die man achten kann.

Rose gesteht Alex, dass sie sowohl George als auch ihn liebt. Für Alex ist das nach wie vor nur sehr schwer zu verstehen. Dafür kommen er und Jenny sich immer näher. Das Mädchen verliebt sich in Alex. Er verspricht Rose, die das Ganze mit großer Sorge beobachtet, Jenny nicht das Herz zu brechen.

Zu einem gemeinsamen Dinner taucht Jenny im Abendkleid von Georges erster Frau auf. Sie sieht bezaubernd aus. Alex und Rose sind geschockt, weil sie um die Bedeutung des Kleides wissen, aber George nimmt es unerwartet entspannt auf und macht seiner Tochter die schönste Liebeserklärung („Ich möchte gern in Deinen Träumen…“). Die Szene ist auf angenehme Weise klischeehaft, aber wunderschön anzuschauen und die Zuneigung vom Vater zu seiner Tochter geht über auf das Publikum. Eine ganz besondere Energie liegt hier im Raum.

Nun folgt einmal mehr ein sehr gelungener und perfekt austarierter Szenenwechsel: George schreibt an seinem Beerdigungsplan. Ganz genau legt er fest, was und wie alles abzulaufen hat. Rose steht ihm voller Liebe bei und verspricht, seine Wünsche zu respektieren.

Im nächsten Moment stehen „plötzlich“ Jenny und Alex im Scheinwerferlicht der Straße. Alex stößt Jenny vor den Kopf, da er ihre Gefühle nicht erwidern mag. Sie ist verletzt, glaubt ihm aber nicht und küsst ihn.

Mit „Die Reise Deines Lebens“ folgt ein krasser Bruch, denn die Familie und Alex sind in Paris bei einer optisch opulenten und choreographisch sehr anspruchsvoll umgesetzten Zirkusvorstellung. George beobachtet Jenny und Alex genau; ihm schwant Böses. Er verbietet der inzwischen 15-jährigen Jenny den Kontakt zu Alex.

Das nun folgende Quartett von George, Rose, Alex und Jenny erscheint sehr disharmonisch, ist aber hoch emotional und verdeutlich die verschiedenen Gefühlsebenen der Protagonisten nachdrücklich. In jede Richtung brechen sich Gefühle bahn und jeder der vier in hin- und hergerissen, wie er bzw. sie jetzt handeln sollte. „Falling“ gilt gemeinhin als eines der anspruchsvollsten Quartette der Musicalwelt. Warum das so ist, wird hier in Münster eindrucksvoll unter Beweise gestellt.

George will Alex um jeden Preis von seiner Tochter fernhalten. Auch Alex, der den Avancen des verführerischen Teenagers zu erliegen droht, möchte die Gefühle im Keim ersticken: Es ist einfach nicht richtig. George steht vor Jennys Zimmertür, wo Alex ihr gerade versucht zu erklären, dass sie kein Paar sein können und ihre Gefühle füreinander falsch sind. George regt sich so sehr auf, dass er einen tödlichen Herzinfarkt erleidet. Die szenische Darstellung vom Vater vor dem Zimmer und dem Paar, dass hinter der Tür um seine Liebe ringt, ist sehr schön umgesetzt.

Wie von George gewünscht, singt Giulietta auf seiner Beerdigung und es wird getanzt und gefeiert. Die choreografischen Anleihen bei Flamenco und Tango sind nicht von der Hand zu weisen und werden – wie bei diesen Tänzen zwingend erforderlich – auch sehr akkurat ausgeführt. Die Dramatik der Szene wird nicht nur durch den perfekt ausgeleuchteten Sonnenuntergang, sondern auch das Klangvolumen greifbar.

Noch auf der Beerdigung macht sich Giulietta an Alex heran („Tanzen Sie auch mit Frauen Ihres Alters?“). Viscusis Choreografien übertragen die sexuellen Schwingungen zwischen den beiden vortrefflich.

Während Marcel Rose in ihrer Trauer beisteht, offenbart ein weiterer gekonnter Wechsel von Licht und Schatten, dass Giulietta und Alex mehr als nur das Tanzbein geschwungen haben. Giulietta redet Alex zu, Jenny zu verlassen, wohlwissend, dass dieser sie liebt. Jenny wiederum weiß, dass Alex die Nacht mit Giulietta verbracht hat. Er versucht, sich zu erklären, doch Jenny hebelt seine Argumente einfach damit aus, dass auch er erst 17 Jahre alt war, als er sich in ihre Mutter verliebte. Jenny bittet ihn auf sie zu warten, wenn er sie wirklich liebt. Zusätzlich bekniet ihn Rose ebenfalls zu bleiben („Alles nur nicht einsam“). Doch Alex erwehrt sich ihrer Anhänglichkeit und geht mit Giulietta nach Italien.

Eine letzte Frage bleibt: Was passiert in drei Jahren, wenn Jenny 18 Jahre alt ist? „Liebe ändert alles, nichts bleibt wie es war.“ ist Alex‘ gesungene Antwort hierauf.

Auch ein wie in diesem Fall noch so gutes Kreativteam allein kann ein Musical nicht zum Erfolg bringen. Maßgeblich sind neben den Musikern (auch diese sind in Münster herausragend) auch die Darstellerinnen und Darsteller, die die Charaktere auf der Bühne zum Leben erwecken. Mark Roy Luykx verleiht Alex Dillingham jungenhaften Charme, sehr viel Haltung und paart beides sehr authentisch mit einer unerwarteten emotionalen Tiefe. Gesanglich kann man sich kaum eine bessere Besetzung  vorstellen. Jeder Ton sitzt und lässt die Facetten von Alex‘ emotionaler Achterbahnfahrt sehr gut nachfühlen. Rose hat wenig Selbstbewusstsein und braucht die Anerkennung ihres Umfeldes, um zu glänzen. Sie erliegt charmanten Avancen nur allzu gern und genießt es, wenn sie von ihrem Liebhaber hofiert wird. Katja Berg kann sowohl diese recht oberflächliche Seite von Rose glaubhaft über die Rampe bringen als auch der verzweifelten Frau, die nicht allein sein kann, ein Gesicht verleihen. Die Energie von Rose zeigt sich nicht nur in ihren manchmal recht egoistischen Handlungen, sondern wird auch durch verschiedene Songs herausgearbeitet. Katja Berg lässt Stärke und Schwäche gleichermaßen zuverlässig erklingen. Eine tolle Ergänzung zu Luykx.

Auch Gregor Dalal fügt sich sehr harmonisch in diese Riege ein. Den Lebemann George gibt er jovial, zeigt seine Stärken aber insbesondere in den Szenen mit Tochter Jenny. Den alternden Vater, dem das Kind zu entgleiten droht, nimmt man ihm schauspielerisch und auch gesanglich in jedem Moment ab.

Floor Krijnen kommt die Rolle der ewigen Mätresse zu. Als Giulietta darf sie den Männern den Kopf verdrehen und sich ihrer Kunst hingeben. So eine Rolle macht sicherlich per se viel Spaß. Doch auch Giulietta hat Tiefgang und Krijnen gelingt es, sowohl die leichte Muse als auch die einsame Künstlerin überzeugend darzustellen. Große Momente, wie das Solo auf Georges Beerdigung, nutzt sie gekonnt, um sie perfekt in Szene zu setzen.

Die unglücklich in Alex verliebte Jenny gibt Deike Darrelmann. Jenny ist frech und niedlich, naiv und verführerisch. Eine schöne Spielwiese für eine Darstellerin. Darrelmann hat augenscheinlich ihre Freude daran und kann sowohl die kindlich überschwänglichen als auch die erwachsen abgeklärten Gefühle mit Leichtigkeit transportieren.

„Aspects of Love“ wird gern mal als sperriges oder langatmiges Stück bezeichnet. In der Regie von Carsten Lepper kann man dies in keinster Weise feststellen. Die Handlung wird kurzweilig visualisiert, die Szenenwechsel sind pfiffig, die Rollen sind exzellent besetzt und wurden mit viel Gespür für Authentizität ausgearbeitet. Das liegt sicherlich auch daran, dass Lepper nicht nur die Rolle des Alex Dillingham selbst gespielt hat, sondern auch, dass er 2019 das Stück bereits als Kammermusical in Wien inszenieren konnte. Natürlich ist in Münster alles sehr viel umfangreicher. Doch anstatt sich einschüchtern zu lassen, hat Lepper seine Chance genutzt und empfiehlt sich als Regisseur für emotionale, komplexe Stoffe.

Addiert man die Leistung des imposanten Sinfonieorchesters bekommt man einen gelungenen Musicalabend, wie man ihn sich wünscht und heutzutage in Stadttheatern nur allzu selten erleben kann.

Michaela Flint

Theater: Theater Münster
Besuchte Vorstellung: 21. Januar 2023
Darsteller: Mark Roy Luykx, Katja Berg, Gregor Dalal, Lars Hübel, Floor Krijnen, Deike Darrelmann, Barbara Bräckelmann, Joshua Edelsbacher, Marieke Engelhardt, James Atkins, Tim Stolberg, Salyma Chatty, Amani El Sadek
Regie / Musik: Carsten Lepper / Andrew Lloyd Webber
Fotos: Martina Pipprich

Einen Eindruck dieser optisch und akustisch sehr gelungenen Inszenierung bekommt man in deren Trailer: