John Kanders und Fred Ebbs „Cabaret“ hat schon mehr als 50 Jahre auf dem Buckel. Und dennoch ist dieses Stück so aktuell wie nie zuvor: Extreme politische und extremistische gesellschaftliche Strömungen nehmen unter dem Deckmantel des Patriotismus und gemäßigten Nationalismus in den letzten Jahren weltweit zu. Die Exklusion von Minderheiten ist nach wie vor sehr weit verbreitet und die breite Masse schaut mehr oder weniger stumm zu und lässt alles geschehen.
Doch mit „Cabaret“ bekommen wir deutlich vor Augen geführt, dass sich (kleinste) politische Veränderungen früher oder später in unvorhergesehenem Maß auf den Alltag von jedem auswirken – auch auf die Unterhaltungsbranche. Denn diese steht bei „Cabaret“ im Mittelpunkt.
Sally Bowles verführt mit ihren lasziven Tanz- und Gesangseinlagen die Männer reihenweise. Auch der amerikanische Autor Cliff verfällt Sally und ihrer Lebensfreude, die man auch als Gleichgültigkeit gegenüber dem Zeitgeschehen bezeichnen könnte. Aber die Vermieterin von Cliff, Fräulein Schneider, bekommt die Auswirkungen des Nationalsozialismus unmittelbar zu spüren als sie dem Werben des jüdischen Obsthändlers nachgibt und in eine Heirat einwilligt, die aber schon bei der Verlobungsfeier jäh von Ernst – einem windigen Schmuggler im Auftrag der NSDAP – unterbrochen wird. Leider entscheidet sich Fräulein Schneider daraufhin für die vermeintlich sichere Seite und lässt Herrn Schulz ziehen. All dies wird dem Publikum vom Emcee, dem Conférencier des Kit Kat Clubs, auf charmante Art berichtet.
Für die diesjährige Musicalinszenierung am English Theatre in Frankfurt zeichnet einmal mehr Tom Littler verantwortlich. Er hat ein optisch und inhaltlich stimmiges Gesamtbild erschaffen, welches aber in vielerlei Hinsicht gern noch provokanter hätte sein dürfen. So sind die Charaktere eher blass und die Bedrohung durch die Nationalsozialisten unterschwellig und kaum spürbar. Auch die Choreographien von Cydney Uffindell-Phillips hätten etwas mehr Schärfe vertragen können (Ausnahme: die Eröffnung des 2. Akts, wo aus einem sexy Pas de Deux mehrerer Paare ein im Stechschritt marschierendes Ensemble wird). Den im Programmheft angekündigten Brechtschen Sarkasmus vermisst man leider gänzlich und so ist „Cabaret“ lange nicht so wild und sexy wie das Theater es seinen Besuchern ankündigt.
Doch Ausstattung, Lichtdesign und musikalische Leitung überzeugen vollends: Simon Kenny hat mit der bedrückenden Stahlkonstruktion ein nüchternes Ambiente geschaffen, welches nach hinten von einem Bahnwaggon begrenzt wird, der zugleich als Orchesterraum dient und sogar am Ende des Stücks von der Bühne fährt. Richard G. Jones gelingt es in jeder Szene, die Darsteller ins rechte Licht zu rücken, ohne dabei zu bunt und aufdringlich zu sein.
Tom Attwood und seine fünf Musiker intonieren Kanders Swing-Melodien mitreißend. Ein schöner Kniff sind die beiden Darsteller, die als Saxophonisten bzw. Klarinettisten die Band unterstützen.
Auffällig ist der deutsche Akzent, mit dem Littler seine Cast durchgehend spielen lässt. Bei Ernst, dem NSDAP-Anhänger, könnte dieser Akzent zur Unterstreichung der Besonderheit dieses Charakters noch sinnvoll erschienen. Aber durchweg alle auf der Bühne mit fiesem deutschen Akzent sprechen zu lassen, wird irgendwann einfach zu viel.
Greg Castiglioni kommt die ehrenvolle Aufgabe zu, dem Publikum die gar nicht so leichte Kost schmackhaft zu präsentieren. Er macht dies mit viel Charme. Seine neckische Mimik und seine schöne Stimme lassen ihn zum Star dieser Inszenierung werden. Er stellt die Tänzerinnen und Tänzer äußerst charmant vor. Den „Gorilla-Song“ bringt er mit der perfekten Mischung aus Spaß und „Spiegel vorhalten“ über die Rampe und sein „I don’t care much“ hat eine starke Intensität. Kein Wunder also, dass er den lautesten Premierenapplaus bekommt.
Als Sally Bowles ist Helen Reuben zu erleben, die sehr sympathisch spielt, eine intensive Sprechstimme hat und auch viel Gefühl in ihre Songs legt. Leider ist sie gesanglich insbesondere mit den hohen Tönen überfordert und singt auch viele Passagen nicht aus. Ihre Sally ist sehr selbstbewusst, fast schon arrogant und hat eine sehr prätentiöse Art. „Maybe this time“ gelingt ihr sehr düster, fast schon hässlich vor lauter Zweifeln und Geringschätzung. Ihr finales „Cabaret“ hingegen ist sehr verzweifelt und ihr spielerischer Ausdruck in diesem Song ist raumgreifend.
Insgesamt fällt auf, dass die Protagonisten ihre Stärken nicht im Gesang haben, sondern im Schauspiel. Das gilt auch für Fräulein Schneider und Herrn Schulz. Sarah Shelton und Richard Derrington geben ein zuckersüßes Paar ab. „A Pineapple“ rührt auch in Littlers Inszenierung zu Tränen. Auch Ryan Saunders (Cliff Bradshaw) überzeugt eher schauspielerisch als gesanglich. Anders sieht es aus beim Ensemble: Hier haben die meisten eine ausgeprägte Musicalgeschichte, was man besonders Matt Blaker (Ernst), Hendrick January (Bobby) und Miles Paloma (Hans) bei den Choreographien ansieht.
„Cabaret“ im English Theatre ist Unterhaltung auf hohem Niveau, bei der es auf die vielen kleinen Details ankommt. Das Gesamtbild ist sehr stimmig. Doch im Gegensatz zu anderen Inszenierungen verlässt man das Theater hier nicht betroffen oder besorgt, sondern kann sehr schnell auf Normalität umschalten. Das wirkt ein wenig befremdlich vor dem Hintergrund der Handlung, doch Littler wird hierfür sicherlich seine Gründe haben, zumal die wenigsten Gäste sicherlich einen direkten Vergleich haben werden.
Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin
Premiere: 3. November 2018
Regie / Bühne: Tom Littler / Simon Kenny
Fotos: Martin Kaufhold