Das kuschelige Stadttheater in Lübeck hatte im September 2003 zur Premiere von Loewe’s und Lerner’s »My Fair Lady« geladen. Da der Stoff auch Nicht-Theatergängern durch den Musicalfilm (1964) mit Audrey Hepburn und Rex Harrison hinlänglich bekannt ist, sind die Produzenten und Regisseure immer wieder aufs Neue gefordert, die romantische Musicalkomödie so zu inszenieren, dass sie Musicalfans und Neulinge gleichermaßen anspricht.
In diesem Fall wurde die Handlung von Thomas Mittmann in das heutige London versetzt. Eliza Doolittle (Annette Pfeifer) verkauft als Stadtstreicherin Rosen an U-Bahn-Fahrgäste. Deren multilinguale Gespräche werden eigens mit deutschen Obertiteln versehen, damit auch jeder im Publikum versteht, worüber sich Polen, Inder und Japaner unterhalten, wenn sie Tube fahren. Eine wirklich charmante Anleihe an große Theaterhäuser.
Die Geschichte nimmt ihren Lauf und ein sehr welt- und wortgewandter, süffisant-sarkastischer Steffen Kubach stellt sich als Prof. Henry Higgins der Herausforderung aus der Straßengöre Eliza eine Lady zu machen, die auf einem Diplomatenball inmitten der feinen Londoner Gesellschaft bestehen kann. Steffen Kubach legt Henry Higgins sehr viel zynischer und boshafter an als Rex Harrison in der Filmvorlage. Doch er betont die Schwächen des alternden einsamen Sprachlehrforscherssehr genau und weckt an den richtigen stellen Mitgefühl für den emotional groben und ignoranten Klotz, den er der Außenwelt sonst präsentiert.
Annette Pfeifer orientiert sich mit ihrer Interpretation des Blumenmädchens sehr stark an Audrey Hepburn, die dieser Figur ihren unvergleichlichen Stempel aufdrückte. Die junge Darstellerin hält dem zwangsläufigen Vergleich mit der Hollywood-Legende in allen Punkten stand. Von natürlich-charmant über melancholisch-verzweifelt bis hin zur formvollendeten Grande Dame der oberen Zehntausend beherrscht sie alle Stimmungen, die Eliza Doolittle im Laufe ihrer phonetischen Schulung heimsuchen. Ihr „Ich hab getanzt heut Nacht“ rührte das Premierenpublikum zu Tränen.
Als weitere Hauptfiguren sind Oberst Pickering (Rainer Luxem) und Freddy Eynsford-Hill (Patrick Busert) zu nennen, die ihre Rollen perfekt ausfüllen: Rainer Luxem mimt als Oberst dem väterlichen Freund und Beschützer von Eliza, wenn Prof. Higgins mal wieder allzu sehr auf dem jungen Mädchen herumhackt. Die Sympathie, die er seinem Schützling entgegenbringt ist in jeder Szene deutlich zu spüren. Patrick Busert spielt die Rolle des schwer verliebten Freddy sehr überzeugend und zieht unter zu Hilfenahme einiger Tanzeinlagen sämtliche Register. Auch wenn er das Herz von Eliza Doolittle nicht gewinnen kann, so ist ihm doch die Zuneigung der einen oder anderen Zuschauerin sicher.
Bedauerlich ist, dass die sich entwickelnde Liebe zwischen Eliza Doolittle und Prof. Higgins in dieser Inszenierung zu schwach ausgearbeitet wurde. So erscheint es tatsächlich überraschend, dass das ehemalige Blumenmädchen zu dem unangepassten Brummbär zurückkehrt, obwohl er sie mehrfach wie ein Möbelstück behandelt hat und seine Gefühle ihr gegenüber immer sehr überzeugend unterdrückt hat.
Das 15-köpfige Ensemble unterstützt die Protagonisten durch solide gesangliche und tänzerische Einlagen. Die modernen, abwechslungsreichen Kostüme tragen maßgeblich dazu bei, das fast 50-jährige Meisterwerk des Musiktheaters in die Gegenwart zu rücken. Lediglich bei der Szene in Ascot, der ersten Bewährungsprobe von Eliza Doolittle, hätte die besondere Stellung der englischen Oberschicht durch verschiedenartige Kostüme und vor allem Hüte der Damen noch mehr betont werden müssen. Durch die identischen Kostüme des Ensembles verliert diese Szene sehr an Gewicht.
Die Kulissen von Wolfgang Buchner stehen denen großer Musicaltheater in nichts nach. Die Bühne des Lübecker Stadttheaters unterliegt effektvollen Wandlungen durch die in kürzester Zeit aus einem überaus ansprechend ausgestatteten Wohnzimmer von Prof. Higgins die Londoner Tube wird. Die Straße vor Higgins Haus, wo Freddy in einem Zelt auf seine angebetete Eliza wartet, wird binnen Sekunden zum Beauty- und Wellness-Zimmer von Mrs. Higgins.
Eine Besonderheit dieser Produktion ist, dass es – wie ansonsten nur bei großen Opern üblich – eine Souffleuse gibt, die auch das ein oder andere Mal zum Einsatz kam. Aber auch diese witzige Einlage nimmt niemand übel, wenn das Gesamtbild stimmt. Und das stimmt in Lübeck in allen Bereichen!
Das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter der Leitung von Ludwig Pflanz spielte das anspruchsvolle Stück so tadellos, dass der ganze Saal mitschwang und man geneigt war zu glauben, es handele sich um ein Playback von CD.
Die nicht enden wollende Begeisterung des Premierenpublikums gibt denjenigen Recht, die den kleineren Stadttheatern eine ebenso hohe (wenn nicht sogar höhere) Qualität bescheinigen wie großen Musicaltheatern. Sowohl künstlerisch als auch technisch braucht sich diese Produktion hinter niemandem zu verstecken! Die Tatsache, dass die meisten Darsteller am Theater Lübeck in dieser Spielzeit parallel zu »My Fair Lady« noch weitere Rollen in Opern oder Theaterstücken übernehmen, zeugt einmal mehr von deren Vielseitigkeit und dem hohen Anspruch der Lübecker Theatermacher an ihre Künstler.
Michaela Flint
veröffentlicht auf musicalzentrale.de
Theater: Großes Theater, Lübeck
Premiere: September 2003
Darsteller: Patrick Busert, Steffen Kubach, Rainer Luxem, Annette Pfeifer
Texte / Musik: Jay Lener / Alan Loewe
Fotos: Theater Lübeck