Das First Stage Theater in Hamburg wird von der Stage School Hamburg als Heimatbühne genutzt: Studenten zeigen in den „Monday Nights“ ihr Können, Absolventen empfehlen sich in professionellen Abschlussproduktionen für erste Engagements an deutschen Theatern. So auch in diesem Jahr – 23 Absolventen zeigen im sexy-anrüchigen „Chicago“, was sie in den letzten Jahren gelernt haben.
Passend zur düsteren Story erklingt die Ouvertüre bei geschlossenem Vorhang. Schon hier wird klar, die vierköpfige Band (Musikalische Leitung: Hauke Wendt) beherrscht ihr Handwerk!
Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick frei auf einen von der Band eingerahmten Halbkreis aus Stühlen, auf dem nach und nach in sexy Dessous gekleidete Damen Platz nehmen.
Allein die Optik der in schwarz gehaltenen Bühne in Kombination mit den rot-schwarzen Dessous ist schon aller Ehren wert. Die Herren sind passend dazu in schwarze Hosen und rote Hemden gewandet. Im Laufe des Abends lernt das Publikum, dass es wirklich nicht mehr braucht, um die mörderische Geschichte von Roxie Hart und Velma Kelly zu erzählen. Dennis Schulze und Huong Schulze-Steffen zeichnen für diesen hervorragenden ersten Eindruck verantwortlich.
„So viel Jazz“ offenbart dann direkt das nächste Juwel dieser Produktion: Hannah Leser als Velma Kelly. Ihre Stimme passt perfekt zu John Kanders Kompositionen und ihre perfekten Bewegungen zeigen bis in die Fingerspitze, was Bob Fosse’s Choreographien so einmalig macht.
Hingegen hat Sharon Berlinghoff viel Soul in der Stimme und gibt die naiv-berechnende Roxie Hart sehr glaubhaft. Gerade im Duett harmonieren Leser und Berlinghoff ideal. Sie scheinen schon jetzt ihre Paraderollen gefunden zu haben.
Den weltbekannten „Cell Block Tango“ hat Regisseurin Jacqui Dunnley-Wendt sehr intensiv inszeniert. Die Damen halten lange Eisenstangen in den Händen, die Assoziationen sowohl zum Pole Dance als auch zu Gefängnisgittern wecken. Diese Stangen werden optisch wie akustisch sehr clever eingesetzt. Eine wirklich tolle Szene!
Melanie Kastaun gibt eine resolute Mama Morton. Stimmlich kann sie diese „gewaltige“ Persönlichkeit zwar (noch) nicht ausfüllen, aber man erkennt ihr Potential.
Als gewitzter Anwalt Billy Flynn ist Niklas Lundbien zu erleben. So ganz wohl fühlt er sich mit der Rolle des non-chalanten Frauenverstehers scheinbar nicht, denn sowohl gesanglich als auch schauspielerisch kann er mit den weiblichen Protagonisten nicht mithalten. Manches Mal wirkt er gar wir eine Karikatur des vermeintlichen Mörderinnen-Helfers. Dennoch gelingt „Razzle Dazzle“ – einmal mehr auch dank der Choreographien, für die in Hamburg ebenfalls Regisseurin Jacqui Dunnley-Wendt mit Unterstützng von Saskia Kiselowa verantwortlich zeichnet – sehr gut.
Till Jochheim gibt den bedauernswerten gehörten Ehemann Amos Hart. Sein „Mr. Zellophan“ trieft nur so vor Mitleid, und Jochheim bringt diese Emotionen sehr gekonnt über die Rampe.
Etwas verwirrend in dieser Inszenierung sind die Erzähler, der dem Publikum öfter die kommende Gesangsszene erläutert. Notwendig ist dies nicht wirklich.
Ein hübscher Kniff sind dagegen die Kulissen (Betten, Tische, Gerichtssaal), die kurzerhand aus unterschiedlich arrangierten Stühlen und Holzplatten zusammengesetzt werden. Auch hier erreicht Multitalent Jacqui Dunnley-Wendt mit wenig Aufwand einen größtmöglichen Effekt.
Die Energie und das hohe Tempo mit dem dieses Ensemble durch anspruchsvollste Choreographien tanzt und weltbekannte Songs darbietet, sind ansteckend.
Dunnley-Wendt hat „Chicago“ mit viel Augenzwinkern inszeniert. Das Publikum hat beispielsweise bei Roxies Aussage vor Gericht sehr viel zu lachen. Die nachgestellten Szenen mit ihrem Mordopfer Fred Casely (mit guten dosiertem Slapstick dargestellt von Lukas Janisch) sind sehr lustig.
Auch die scheinbar erzkonservative Reporterin Mary Sunshine, die sich im zweiten Akt „überraschenderweise“ als Mann entpuppt, ist sehr amüsant. Arthur Polle spielt diese Rolle sehr gut und überzeugt auch gesanglich in den hohen Lagen. Dennoch bleibt ihm auch Zeit, in anderen Szenen sein ausgeprägtes Talent für Bob Fosse’s Choreographien unter Beweis zu stellen.
Beim finalen „Nowadays / Hot Honey Rag“ zeigt sich einmal mehr die hohe Qualität der Ausbildung an der Stage School. Hannah Leser ist eine exzellente Schauspielerin, die die Rolle der Velma mimisch und tänzerisch genauso brillant meistert wie gesanglich. Da Velma Kelly und „Chicago“ jedoch sehr speziell sind, darf man gespannt sein, wie überzeugend Leser in anderen Rollen ist.
Auch Sharon Berlinghoff blüht als Roxie Hart auf. Ihre permanent geschürzten Lippen sind genauso perfekt wie ihre vermeintliche Schusseligkeit und die gut gespielte Abhängigkeit von einem Mann, der ihr sagt, wo es lang geht.
„Chicago“ in Hamburg ist sehenswert! Der dosierte Einsatz von Kulissen und Kostümen gibt den Akteuren viel Raum, ihre Rollen auszufüllen. Dies gelingt den diesjährigen Absolventen der Stage School größtenteils sehr gut. Aber wie immer bei solchen Abschlussveranstaltungen wird auch deutlich, wo jeder und jede Einzelne seine / ihre Stärken und Schwächen hat. Und so bleibt es nicht aus, dass nicht alle Choreographien 100 %ig synchron sind oder alle Töne getroffen werden. Doch das gehört dazu und mindert in diesem Fall den Theatergenuss nicht im Geringsten!
Michaela Flint
Besuchte Vorstellung: 30. Juni 2017
Musik / Regie: John Kander / Jacqui Dunnley-Wendt
Fotos: Dennis Mundowski