home 2016 Ein wenig charismatisches Liebespaar in den Wirrungen der Maueröffnung

Ein wenig charismatisches Liebespaar in den Wirrungen der Maueröffnung

Fast sechs Jahre nach der Uraufführung im Berliner Theater am Potsdamer Platz findet „Hinterm Horizont“ seinen Weg nun nach Hamburg. Udo Lindenberg kennt in Hamburg jeder – wohnt er doch seit jeder im angesehen Atlantic Hotel. Folglich setzt die Stage Entertainment in ihrer Vermarktung vollkommen auf den „Udo-Faktor“ anstatt auf die abwechslungsreiche Liebesgeschichte zwischen dem Musiker und dem Mädchen aus Ost-Berlin. Dass der Panikrocker aber durchaus polarisiert und das auch nicht gerade wenig, könnte die ohnehin schon kurze Spielzeit bis zum Sommer 2017 zusätzlich erschweren.

Ulrich Waller zeichnet die Geschichte von Udo und Jessy nach, die sich zum ersten Mal bei Udos einzigem DDR-Konzert im Oktober 1983 begegnen. Das Ergebnis einer leidenschaftlichen Nacht in Moskau einige Jahre später heißt Steve und macht seiner Mutter heutzutage das Leben schwer. Eine Journalistin findet heraus, dass da mal was war und interviewt Jessy. Zum Schluss lernt Steve sogar noch seinen richtigen Vater kennen und alle Leiden der letzten 20 Jahre sind vergessen.

Das Operettenhaus ist deutlich kleiner als das Theater am Potsdamer Platz, daher mussten einige Kulissen angepasst werden. Durch die Kompaktheit überzeugen die Ost- und Westwohnküchen noch mehr, der über allem schwebende Hut wirkt noch imposanter und die Mauer-Elemente, die als Leinwand fungieren, setzen das Geschehen noch besser ins Szene.

Alex Melcher übernahm die Hauptrolle nur eine Woche vor der Premiere, da sich Serkan Kaya bei den Proben schwer verletzt hatte. Natürlich kannte Melcher den Part, den er bereits in Berlin gespielt hatte. Doch eine kleinere Bühne, leicht angepasste Texte und drei neue Songs machten umfangreiche Proben und die Absage der ersten Preview erforderlich. Auffallend an seiner Interpretation ist, dass er Udo Lindenberg nicht nachmacht, sondern in den Dialogen „er selbst“ ist und nur dann in den typischen Udo-Slang verfällt, wenn sich sein Alter Ego beweisen oder schützen will, oder er in die Rolle des Rockstars schlüpft. Dieser Wechsel funktioniert jedoch sehr gut und lässt auch den Privatmenschen Udo am Geschehen teilhaben. Gesanglich fällt der Unterschied zum Original erst bei der Zugabe „Reeperbahn“ auf, die Udo Lindenberg gemeinsam mit Alex Melcher zum Besten gibt. Plötzlich herrscht eine ganz andere Stimmung im Saal. Die Zurückhaltung des Publikums ist verschwunden und alle bejubeln den Panikrocker.

Woher die Zurückhaltung und der dürftige Szenenapplaus in den vorangegangenen zweieinhalb Stunden rührt, kann man nur mutmaßen. Doch sicherlich liegt es auch daran, dass die Darsteller allesamt nicht sehr charismatisch oder liebenswert sind. Die komplette Show zielt auf die Lindenberg-Songs ab und berührt emotional nur, wenn die Szenen nach dem Mauerfall eigespielt werden oder Udo dazu aufruft auch „die verbliebenen Mauerreste in den Köpfen abzubauen“.

Weder Josephin Busch noch Nadja Petri können als junge bzw. heutige Jessy überzeugen. Sie wirken emotional kühl und sehr hart. Dies ändert sich auch in ihren Soli leider nicht.

Jessys Eltern und Bruder (Dorina Maltschewa als Mutter, Boris Böhringer als Vater und Marcus Schinkel als Bruder Elmar) spielen rollendeckend. Ihr Ost-Berliner Akzent wirkt authentisch und der Umgangston ist mehr hart als herzlich. Sie passen perfekt in das ostdeutsche Wohnzimmer, das mehr als nur ein Klischee ist.

Gänzlich unpassend wirkt Rainer Brandt als Minister. Seine Texte sind plump, sexistisch und für einen Minister der Staatssicherheit weder angemessen noch glaubwürdig. Er poltert wie ein Störfaktor über die Bühne und mehr als einmal fragt man sich: Soll das wirklich so sein? Aber einigen im Publikum scheint dieser Humor zu gefallen und man hört viele Lacher.

Einige Szenen, u. a. auch die im Ministerbüro, geraten deutlich zu lang. Hinzu kommen Tanznummern zu Instrumental-Rock, bei denen man sich auch eine deutliche Kürzung gewünscht hätte („Gitarren statt Knarren“, „Moskau“). Über Ungereimtheiten wie die Einspielung der „Tagesthemen“ als Jessys Vater am 9. November 1989 den Fernseher einschaltet, um zu erfahren, was dort zu den Mauerfall-Gerüchten gesagt wird, könnte man hinwegblicken, wenn die bekannten Songs zünden würden. Doch der Titelsong verpufft in disharmonischem Gesang der beiden Hauptdarsteller und „Ich lieb Dich überhaupt nicht mehr“ will so gar nicht zu den Stimmlagen der beiden Jessys passen. Vielleicht ist es auch die Songauswahl an sich, die dieses Musicals so unterkühlt wirken lässt.

Um einen Bezug zu Hamburg herzustellen, wurde immer wieder darauf verwiesen, dass Udo Lindenberg ja in Hamburg heimisch ist. Auch zwei Songs von Udo Lindenbergs letztem Album („Einer muss den Job ja machen“, „Durch die schweren Zeiten“) wurden in die Hamburger Fassung integriert. Zusätzlich wurde der Schluss stärker auf die Reeperbahn ausgerichtet: Olivia Jones gibt (in einem bedauerlicherweise extrem schäbigen Kostüm) eine ihrer Kiez-Führungen, Hans Albers singt „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“, und trotzdem will der Funke nicht überspringen. Kaum jemand schunkelt im Publikum. Erst als Udo Lindenberg in denselben grünen Socken wie Melcher auf die Bühne schlurft und das Mikro schwingt, ändert sich dies schlagartig.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Operettenhaus, Hamburg
Premiere: 10. November 2016
Darsteller: Alex Melcher, Josephin Busch, Dorina Maltschewa, Nadja Petri, Rainer Brandt, Boris Böhringer, Marcus Schinkel 
Musik / Regie:  Udo Lindenberg / Ulrich Waller
Fotos: Stage Entertainment