home 2017 Ein überzeugendes Plädoyer für das Off-Musical in Deutschland

Ein überzeugendes Plädoyer für das Off-Musical in Deutschland

Eins ist nach diesem Abend klar: Hedwig ist nicht die abgeranzte, jammernde Drag Queen für die sie vielfach gehalten wird. Nein, vielmehr ist sie eine Frau, der das Schicksal übel mitgespielt, die sich immer für ihre Mitmenschen aufgeopfert und sich dabei selbst komplett verloren hat. An ihrer bewegten und bewegenden Biographie lässt Hedwig seit September 2017 das Frankfurter Publikum teilhaben.

Die in einem Hinterhof versteckte Brotfabrik bietet den perfekten Rahmen für dieses unerwartete Psychogramm eines ostdeutschen Jungen, der sein Glück im Frausein sucht und kläglich scheitert. Hedwig wuchs in Ost-Berlin als Hänsel auf und wusste schon immer, dass er anders war als die anderen, dass er mehr wollte als hinter dieser Mauer zu versauern. Seine Chance sah er gekommen, als sich GI Luther in ihn verliebt und ihm einen Heiratsantrag macht. Die ideale Lösung: eine Geschlechtsumwandlung. Doch der inkompetente Chirurg hinterlässt ein Mahnmal: ein kurzes Stück des Gliedes bleibt übrig, der „angry inch“.

Hänsel nimmt den Namen seiner Mutter an, nennt sich fortan Hedwig und geht mit GI Luther in die USA. Doch dort wird der „angry inch“ mehr und mehr zum Problem und irgendwann steht Hedwig vor den Scherben ihrer Ehe. Sie hält sich als Babysitterin über Wasser und lernt den talentierten Tommy kennen, mit dem sie ihre Leidenschaft für Musik (und mehr) ausleben kann. Sie schreibt für ihn Songs und ersinnt den Künstlernamen „Tommy Gnosis“ für ihn. Doch auch diese Romanze währt nicht lange: Tommy verlässt Hedwig mitsamt ihrer Songs und macht als Rockstar Karriere. Hedwig bleibt fortan nur noch die Rolle der frustrierten Beobachterin…

In diesem Moment ihres Lebens lernt das Publikum sie kennen – aber wie! Hedwig ist eine Erscheinung! Plateauschuhe, eine blonde Perücke mit langen Locken, ein im Laufe des Abends überraschend wandlungsfähiges Outfit und Augen, die einen vom ersten Moment an fesseln. Michael Kargus gelingt es schon beim Betreten der Bühne Hedwig Stärke und Fragilität gleichermaßen zu verleihen. Die Zuschauer spüren, dass die verletzte Frau sich hinter ihren Kostümen, der Perücke und dem auffälligen Make-Up versteckt und zu schützen versucht. Kargus bringt dies spürbar beklemmend über die Rampe.

Unterstützt wird Hedwig von ihrem Bühnen-Ehemann Yitzhak (gespielt von Kathrin Hanak). Die Zweckgemeinschaft der beiden ist geprägt von vielen Anfeindungen und Neid: Yitzhak möchte aus dem Schatten Hedwigs treten, Sympathie spürt man keine. Hanak kann Missgunst und Geringschätzung gut transportieren, auch wenn sie gesanglich mit Stephen Trasks Duetten so ihre liebe Müh hatte. Ihre solistischen Momente zeigten jedoch deutlich ihr Potential.

Die Songs, mit denen die wichtigsten Stationen aus Hedwigs Leben beschrieben werden, sind mal rockig, mal balladesque, voller Aggressionen, Bitterkeit, Verzweiflung und Liebe. Diese emotionale und gesangliche Bandbreite wurde von Neil Patrick Harris (Hedwig in der ersten Broadway-Inszenierung 2014) als eine der größten Herausforderungen bezeichnet. Doch Kargus gelingt diese Gratwanderung überzeugend. „Wig in a Box“ und „Hedwig’s Lament / Exquisite Corpse“ sind nur zwei herausragende Beispiele hierfür.

Schlüpfrige Dialoge („Appelwoi schmeckt als würde man seiner Oma durch den Schritt lecken“) und freche Interaktionen mit dem Publikum machen Hedwig nahbar und ihre Bordsteinphilosophie wirkt gar nicht mehr so trivial.

Am Ende dieses knapp 100-minütigen Seelen-Striptease steht Hänsel (fast) wie Gott ihn schuf vor dem Publikum. Er hat sich von Hedwig losgesagt und wagt einen Neustart – wie auch immer dieser aussehen mag.

Thomas Helmut Heep (Regie) und Dean Wilmington (Musikalische Leitung) haben „Hedwig & The Angry Inch“ mit viel Fingerspitzengfühl inszeniert. Die vierköpfige Band rockt die Clubbühne der Brotfabrik. Sitzenzubleiben fällt hier nicht leicht. Heep gibt Kargus viel Freiraum, Hedwig als facettenreiche Frau darzustellen, die sich nicht (mehr) schämt, ihre Gefühle auszuleben. Dabei verzichtet der Regisseur auf viel Brimborium drum herum und lässt Hedwig ihre Biographie mit eigenen Schwerpunkten ganz pur und teilweise knallhart erzählen. Die Vermischung von deutschen Dialogen und englischen Songtexten gelingt mal mehr, mal weniger, aber die Intensität von Kargus’ Spiel lässt dies schnell vergessen.

Für die Folge-Produktion „American Idiot“ im kommenden Jahr hat das Team von „Off-Musical Frankfurt“ sich selbst die sprichwörtliche Latte sehr hoch gelegt.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Brotfabrik, Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 21. Oktober 2017
Darsteller: Michael Kargus, Kathrin Hanak
Musik / Regie: Stephen Trask / Thomas Helmut Heep
Fotos: Off-Musical Frankfurt