home 2019 Ein gelungenes Konzept, um ein vermeintliches Tabu zu thematisieren

Ein gelungenes Konzept, um ein vermeintliches Tabu zu thematisieren

„Broadway Backwards“ im Schmidt Theater ist nicht einfach ein unterhaltsames Konzert, bei dem Darsteller die Musicalhits von Frauen singen und Darstellerinnen sich an den Showstoppern der Männer versuchen. Die Kooperation von Transparence Theatre und Schmidt Theater nutzt dieses Benefiz-Konzert stattdessen, um nachdrücklich für die Anerkennung von Transgendern in der Gesellschaft zu werben. Transsexuelle bzw. Transgender-Personen akzeptieren die ihnen aufgrund des biologischen Geschlechts zugewiesene Geschlechterrolle nicht. Dies führt im privaten wie beruflichen Umfeld zu vielen Problemen – und auch die Behörden und Ärzte machen es den Betroffenen nicht gerade leicht.

Der Kampf gegen Stigmatisierung und Ausgrenzung und somit für die Akzeptanz von Transgendern steht an diesem Abend im Mittelpunkt. Die Erlöse aus diesem Abend gehen an das Transgender-Kinder-Netzwerk Trakine e.V. sowie die Deutsche Gesellschaft für Transidentität & Intersexualität dgti e. V.

Moderiert wird das Konzert von Kim Fisher und Brix Schaumburg, der als Mädchen geboren wurde und erst im Rahmen seiner Ausbildung zum Musicaldarsteller die Kraft und den Rückhalt fand, seine Transidentität zu akzeptieren und sich einer Geschlechtsangleichung zu unterziehen.

Zum Auftakt sangen die beiden Moderatoren ein Medley aus „My Shot“ (Hamilton) und „Ich hab getanzt heut Nacht“ (My Fair Lady) sowie „Man weiß nie, was man kriegt“ (erinnert irgendwie an Forrest Gumps Pralinenschachtel), einen Song, den Wolfgang Adenbergs und Roun Zieverink eigens für diesen Abend geschrieben haben.

Die fünfköpfige Band begleitete die 17 Künstler auf der Bühne mit Schwung und sorgte für große Begeisterung. Einzig Angelika Milster sang ihre beiden Songs zu Halbplaybacks.

Die meisten Künstler traten im Laufe des Abends zweimal auf. So gab Marian Campbell „Maria“ und “Endlose Nacht” zum Besten und Petter Bjällö schwelgte in „Erinnerung“ und sang ABBAs „Waterloo“ komplett auf Schwedisch, was gleichsam ungewohnt und vertraut klang. Seine Nervosität bei „Erinnerung“ ob Angelika Milsters Anwesenheit glaubt man ihm sofort.

Leon van Leeuwenberg brillierte mit „Sinn für Stil“ und „Wie Du“, wobei bei letztgenanntem Duett Lutz Standop den Part der jungen Sisi übernahm. Standop ließ bei „Stars and the Moon“ und „Wer kann schon ohne Liebe“ sein gänzlich vergessen, dass die Songs eigentlich für Frauen geschrieben wurden. Seine Interpretationen waren absolut authentisch.

Das Terzett aus „3 Musketiere“ (gemeinsam mit van Leeuwenberg und Andreas Lichtenberger) gehörte zu den emotionalsten Momenten des Abends.

Reginald Jennigs zeigte mit „All that Jazz“ und „And I am telling you“, dass Männer mit solch einer Soulstimme diese sogenannten Diven-Hymnen mehr als überzeugend intonieren können. Seine Tänzer schufen mit einer traumhaften Fosse-Choreographie den idealen Rahmen für diese Highlights. Isabel Dörfler bildete mit ihren beiden Songs „All I care about is love“ und „Die Musik der Nacht“ den perfekten Gegenpol: kraftvoll, unerbittlich und gerade im letzten Song unbeschreiblich tief leidend. Schlichtweg atemberaubend!

Angelika Milster lieferte mit „I am what I am“ und „We will rock you“ zwei Partyhymnen allererster Güte ab, auch wenn man leider sagen muss, dass sie diesen Rocknummern stimmlich nicht ganz gewachsen war. Doch das Publikum war begeistert und jubelte „seiner“ Diva zu.

Schöne Momente steuerten auch Nadja Scheiwiller (wenn auch ohne ihren erkrankten Mann Alexander Klaws) und Andreas Lichtenberger bei: Ihr Duett „Fremde wie ich“ klang wundervoll und wirkte einzig durch die körperlichen Größenunterschiede etwas ungewohnt. Dass die beiden Spaß an den vertauschten Rollen hatten ist unbestreitbar!

Bei Andreas Lichtenbergers Solo im 2. Akt („Liste falscher Kerle“) sorgten einige Zuschauer durch Gekicher ob des vermeintlich unpassenden Songtexts („als ich ein kleines Mädchen war“) für Kopfschütteln, aber auch solche Reaktionen gehören dazu. Richie Gooding sprang im zweiten Teil für Klaws ein und brachte ein sehr schön phrasiertes „Over the Rainbow“ zu Gehör.

Schließlich erfüllte sich auch Brix Schaumburg einen Traum und sang „She used to be mine“ aus „Waitress“, was in mehrerlei Hinsicht sehr berührend war, konnte der Song nämlich auch dahingehend interpretiert werden, dass er über sein früheres Ich singt.

Greta Bollig, die Vorsitzende vom dgti e.V., sorgte mit ihrer bewegten und bewegenden Lebensgeschichte für den thematischen Rahmen: Erst nach mehr als fünf Lebensjahrzehnten gelang es ihr zu ihrer Transidentität zu stehen. Dass sie auf dem Weg dorthin sehr gelitten hat und viele auch psychische Hürden bezwingen musste, wurde jedem klar, der ihren Beschreibungen der Reaktion ihres Kollegen und besten Freundes oder ihrer Familie gebannt lauschte. Dass man es im fortgeschrittenen Alter umso schwerer hat, eine Geschlechtsangleichung vornehmen zu lassen, beschrieb Bollig nachdrücklich.

Der Abend endete mit DER Musical-Hymne für Gleichberechtigung schlechthin: „Seasons of Love“ aus „Rent“ rührte Zuschauer und Künstler gleichermaßen zu Tränen und bildete den würdigen Abschluss für diesen gefühlvollen Abend, der ganz sicher und hoffentlich nicht nur bei den Abwesenden für ein ausgeprägtes Bewusstsein zum Thema Transgender gesorgt hat.

Von diesen Konzerten kann, darf und muss es in Zukunft noch sehr viele weitere im ganzen Bundesgebiet geben.

Michaela Flint

Theater: Schmidt Theater, Hamburg
Premiere: 23. September 2019
Darsteller: Isabel Dörfler, Leon van Leeuwenberg, Marion Campbell, Nadja Scheiwiller, Andreas Lichtenberger, Reginald Jennings, Lutz Standop, Angelika Milster, Brix Schaumburg
Idee: Kolja Schallenberg